Die Ereignisse vom 6. Januar 2021: Der Verführer und die Verführten

 

Zweifellos wird der 6. Januar 2021 in die Geschichte der USA eingehen. Der Tag, an dem Hunderte von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump gewaltsam das Capitol stürmten, die Kongressabgeordneten in die Flucht schlugen, Türen, Fenster und Möbel zertrümmerten und sich in den Büros und Sitzungszimmern breitmachten, ohne dass die völlig überrumpelten und überforderten Sicherheitskräfte auch nur die geringste Chance gehabt hätten, dies zu verhindern. Keine Frage, dass Donald Trump, der seine Anhänger über Wochen aufstachelte und sich lügenhaft als wahren Sieger der Präsidentschaftswahlen ausgab, für die Ereignisse vom 6. Januar die Hauptverantwortung zu tragen hat. Mit allen Mitteln der Demagogie hat er einen Teil seiner Anhängerschaft zu einer durch und durch fanatisierten Gefolgschaft zu formen vermocht, die vor nichts zurückschreckt und bereit ist, für ihr Idol über Leichen zu gehen. Doch das ist nur die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist: dass es nicht nur einen Verführer braucht, sondern auch Menschen, die sich verführen lassen. Schaut man sich die Anhängerschaft und die Wählerinnen und Wähler Trumps genauer an, dann gehören zu ihnen in grosser Anzahl Menschen, die auf die eine oder andere Weise zu kurz gekommen sind, ihre Lebensträume nicht verwirklichen konnten, keinen Zugang zu Sozialleistungen haben, ihren Job infolge Schliessung ganzer Industriezweige verloren haben oder mit ansehen müssen, wie andere reich geworden sind, während sie selber fast nicht über die Runden kommen. Demagogen und Verführer wie Donald Trump schöpfen ihren ganzen Erfolg aus der Unzufriedenheit und den Hoffnungen von Menschen, die sich benachteiligt und vernachlässigt fühlen und daher nur allzu empfänglich sind für einen Politiker, der ihnen verspricht, dass er, und nur er, alles zum Besseren wenden wird. Wenn man nun also Donald Trump und seine fanatisierte Anhängerschaft verurteilt, dann muss man gleichzeitig auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse verurteilen, welche den Nährboden bilden sowohl für den Demagogen wie auch für seine Anhängerschaft. Das war im Deutschland der Dreissigerjahre nicht anders: Auch Hitler hatte nur deshalb Erfolg, weil es den Deutschen zu jener Zeit wirtschaftlich so schlecht ging und sie daher empfänglich waren für einen “Heilsbringer”, der ihnen eine goldene Zukunft versprach. Es wird daher nicht genügen, Donald Trump durch Joe Biden zu ersetzen. Mindestens so wichtig ist eine radikale Erneuerung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse: mehr soziale Gerechtigkeit, ein grundlegendes Recht auf Arbeit, gleichberechtigter Zugang zu sozialen Leistungen, Schulen und Universitäten, Wertschätzung und faire Löhne für all jene Menschen, die an den untersten Rändern der Gesellschaft all jene schweren, mühsamen und anstrengenden Arbeiten verrichten, die als Basis für die gesamte Wirtschaft unentbehrlich sind, und, vor allem: das Ende jener verheerenden kapitalistischen Umverteilung, welche die Reichen jeden Tag ein bisschen reicher und die Armen jeden Tag ein bisschen ärmer macht. Nur wenn es dem neuen Präsidenten gelingt, solche tiefgreifenden Reformen voranzubringen, dürfen wir hoffen, dass Demagogen wie Donald Trump und Ereignisse, wie wir sie am 6. Januar 2021 gesehen haben, endgültig der Vergangenheit angehören.