Himmelschreiende Ungerechtigkeiten in der Coronakrise

 

Der “Tages-Anzeiger” vom 21. Januar 2021 berichtet über die Zustände auf schweizerischen Baustellen. Der Termindruck sei enorm. Dazu komme die Angst vor einem Jobverlust. Um nicht negativ aufzufallen und aus Angst vor negativen Konsequenzen würden es viele Arbeiterinnen und Arbeiter vermeiden, sich krank zu melden. Die meisten würden erst dann zu arbeiten aufhören, wenn sie heimgeschickt würden. Auf der Baustelle selber sei der Schutz vor einer Ansteckung durch das Coronavirus kaum gewährleistet, die Einhaltung eines Abstands von 1,5 Metern sei je nach Art der Tätigkeit oft unmöglich. Dazu komme, dass es viel zu wenige Toiletten gäbe und die vorhandenen  meistens verdreckt seien – dies nicht zuletzt deshalb, weil sich angesichts der vielen Subunternehmen auf den Baustellen niemand für die Sanitäranlagen verantwortlich fühle. Prekär seien auch die Verhältnisse in den Baracken, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Pausen verbringen und wo man, meist ohne Masken, dicht an dicht gedrängt sitze. Die Diskussion über Homeoffice erscheine den meisten Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern wie aus einer anderen Welt, sie fühlten sich als Menschen zweiter Klasse und es gäbe für die ganze Schufterei kaum je ein Dankeschön. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Während ihre Chefs in gut geheizten Büros oder im Homeoffice arbeiten, sich mit Abstandhalten und Masken gut vor dem Virus schützen können und erst noch einen höheren Lohn einkassieren, schuften sich die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Baustellen buchstäblich fast zu Tode. Und doch gab es die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen “oben” und “unten”, zwischen denen, die körperlich arbeiten, und denen, die verwalten, organisieren und besitzen, schon lange vor der Coronakrise, nur waren sie weniger sichtbar. Nun, angesichts der Pandemie mit all ihren Auswirkungen, treten sie schärfer zutage als je zuvor und erscheinen in viel grellerem Scheinwerferlicht: Oben jenes Viertel der reichsten Haushalte, die ihr Vermögen seit dem Beginn der Coronakrise sogar noch steigern konnten, unten das ärmste Viertel, das auf Erspartes zurückgreifen oder sich sogar verschulden musste, nur um einigermassen über die Runden zu kommen. Oben Rechtsanwälte, Firmenbosse, Ärztinnen und Lehrer, die kaum Angst haben müssen, ihren Job zu verlieren, unten Verkäuferinnen, Köche, Kellnerinnen und Theaterkünstler, deren Arbeitsplätze mehr und mehr gefährdet sind. Während gutbetuchte Eltern ihren Kindern beim Homeschooling beste Voraussetzungen und gute Unterstützung bieten können, verfügen weniger verdienende Eltern vielleicht nicht einmal über einen eigenen Computer, können ihren Kindern beim Zuhauselernen kaum die nötige Unterstützung geben und müssen mit der Angst leben, ihre Kinder würden den Anschluss an die schulische und berufliche Weiterbildung möglicherweise verpassen. Während sich all jene, die genug Geld haben, Ferien auf den Malediven, auf einem Kreuzfahrtschiff oder eine Woche in einem St. Moritzer Luxushotel mit täglichem Skifahren leisten können, stehen jene, die weniger Geld haben, vor der verschlossenen Tür ihrer Quartierbeiz und müssen nebst allem anderen auch noch auf ihr Feierabendbier verzichten. Während diejenigen mit dem dickeren Portemonnaie im Erstklassabteil des Zuges sitzen und dort genügend Abstand zu ihren Mitreisenden haben, bleibt allen anderen nur das Gedränge im Zweitklassabteil übrig. Während sich die Gutverdienenden problemlos gut schützende FFP2-Masken leisten können, müssen sich alle anderen mit den viel weniger gut schützenden Hygienemasken zufriedengeben. Während sich die einen, um allzu häufige ausserhäusliche Kontakte zu vermeiden, in ihre geräumigen Einfamilienhäuser und Gärten zurückziehen können, müssen sich die anderen zu viert oder zu fünft in enge Mietwohnungen pferchen. Ein südafrikanischer Milliardär lässt sich in die Schweiz einfliegen, um sich frühzeitig eine Impfung zu sichern. Und Destinationen wie Dubai und Abu Dhabi bieten vermögenden Briten und Britinnen eine Impfung an, inklusive zwei Wochen Ferien am Strand zwischen der ersten und zweiten Impfung. In dieser aussergewöhnlichen, so belastenden Zeit sollten wir uns nicht nur mit der Frage beschäftigen, wie wir uns vor dem Coronavirus schützen können. Wir sollten, endlich, auch darüber nachdenken, wie eine Gesellschaft aussehen müsste, in der es nicht mehr “oben” und “unten” gibt, keine Privilegien mehr für die einen auf Kosten der anderen, soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle.