Nicht die Armen müssen sich ihrer Armut schämen, sondern die Reichen ihres Reichtums…

 

Der heutigen “Sonntagszeitung” vom 28. Februar 2021 liegt das grossformatige Hochglanzmagazin “encore” bei. Auf 41 Seiten wird die ganze Welt der Schönen und Reichen ausgebreitet: die zehn schönsten Golfplätze Europas in paradiesischen Landschaften, eine Anti-Aging-Crème für 115 Franken, ein modulares Sofasystem, aufgebaut in einer marmornen, tempelartigen Wandelhalle, ein Buch über den Luxusdesigner Aldo Cipullo für 200 Franken, ein Fernsehschirm für 80’000 Franken, der sich auf Knopfdruck in ein Wandbild verwandelt, das neueste Modell der Mercedes-S-Klasse, vorgeführt von zwei eleganten Ladys, Luxushotels in Bolivien, perlenförmig aneinandergereiht, gleich einem Mondcamp in eine Lagune hinausgebaut und mit hölzernen Stegen miteinander verbunden, eine nautische Uhr für 35’000 Franken, neueste Trendmode im Pilotenlook mit allem dazugehörenden Accessoire… Versetzen wir uns für einen Moment in eine alleinerziehende Verkäuferin, die mit ihrem kargen Lohn Monat für Monat kaum über die Runden kommt. Stellen wir uns vor, sie hat sich heute ausnahmsweise mal die “Sonntagszeitung” gekauft und dann auch das Magazin “encore” durchgeblättert. Was wird sie sich bei diesem Blick in eine ferne, für sie wohl für immer unerreichbare Welt wohl gedacht haben? Hat sie sich vielleicht sogar ein klein wenig schuldig gefühlt? Schuldig, dass sie eben “nur” Verkäuferin ist und für ihr Kind und für sich selber auf so vieles verzichten muss, was sich andere problemlos leisten können, von einem Fernsehgerät für 80’000 Franken, einer Uhr für 35’000 Franken und von Hotelferien in einer bolivianischen Lagune gar nicht erst zu reden. Ja. Arm sein ist an sich schon schwer genug. Aber arm sein in einer Welt, in der viele andere in unsäglichem Luxus schwelgen, ist noch ungleich viel schwerer. Vergessen wir nicht: Wer sich ein Fernsehgerät für 80’000 Franken leisten kann, hat in aller Regel sein Geld nicht wirklich aus eigener Kraft verdient. Seinen übertriebenen Reichtum hat er grösstenteils vielleicht geerbt oder er besitzt Immobilien, die er möglichst gewinnbringend vermietet, oder er ist Aktionär eines florierenden Unternehmens, so wie die 16 Familienmitglieder der Roch-Erben Hoffmann und Oeri, die 2020 729 Millionen Franken an Dividenden “verdient” haben. Es gibt viele Wege, um reich zu werden. Aber übertriebener Reichtum ist immer, früher oder später, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, eine Form von Diebstahl an öffentlichem Gut. Während die meisten, die ein Leben lang “nur” arbeiten und keine Gelegenheit haben, auf anderen Wegen zu Reichtum zu gelangen, meist bis an ihr Lebensende arm bleiben. Es ist in der Tat eine verkehrte Welt: Eigentlich müssten sich die Reichen ihres Reichtums schämen – weil sie nämlich anderen etwas weggenommen oder vorenthalten haben. In der Logik des Kapitalismus aber ist es genau umgekehrt. Nicht die Reichen schämen sich ihres Reichtums, sondern die Armen schämen sich ihrer Armut und machen sich nicht selten noch Selbstvorwürfe. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass viele Bedürftige auf Sozialhilfegelder, auf die sie Anspruch hätten, freiwillig verzichten, weil sie eben nicht offiziell als “arm” gelten möchten. Während die Reichen in aller Regel ihren Reichtum stolz zur Schau tragen – ihr neues Auto blitzblank poliert durch die Stadt spazieren fahren, in allen Tönen vom Besuch im Opernhaus schwärmen und Bilder von der Südseeinsel an die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft verschicken. Übertriebener Reichtum und übertriebene Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Gesellschaft. Nicht nur das Postulat der sozialen Gerechtigkeit erfordert eine Umkehr des Bisherigen, sondern auch die Bedrohungen durch den Klimawandel: Übertriebener Luxus auf Kosten anderer – seien es Menschen, sei es die Natur – hat schlicht und einfach keine Zukunft. Zukunft hat einzig und allein eine Gesellschaft, in der Reichtum und Wohlstand gleichmässig auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilt sind und Hochglanzmagazine wie “encore” mit Uhren für 35’000 Franken und Fernsehgeräten für 80’000 Franken hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören.