“Freier Markt” bedeutet in Tat und Wahrheit nichts anderes als “Freie Ausbeutung”

 

“Es dominiert der Mythos”, so die Philosophieprofessorin Lisa Herzog in ihrem “Samstagsgespräch” mit dem “Tages-Anzeiger” vom 6. März 2021, “dass der Markt den Wert der Arbeit Einzelner gerecht widerspiegele und daraus faire Löhne resultieren.” Lisa Herzog hat Recht: Der Mythos Markt dominiert unsere Köpfe und hält sich hartnäckiger denn je. Nicht nur in der Arbeitswelt, auch ganz allgemein in Wirtschaft und Gesellschaft. “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” sind Begriffe, die kaum je in Frage gestellt werden. Dabei wäre genau dies dringendst nötig. Denn “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” sind zwar wohltönende Begriffe. Wer in ihnen aber Synonyme zu Fairness, Gerechtigkeit oder gar Wohlergehen sieht, müsste sich bei näherem Hinschauen rasch eines Besseren belehren lassen. Weder haben “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” verhindern können, dass weltweit eine Minderheit Reicher und Superreicher Jahr für Jahr reicher und reicher wird, noch haben sie verhindern können, dass Abermillionen von Menschen weltweit nicht einmal genug zu essen haben. Der “Freie Markt” und die “Freie Marktwirtschaft” haben ebenfalls nicht verhindern können, dass in einem Land wie der Schweiz gewisse Konzernchefs dreihundert Mal mehr verdienen als Abertausende von Menschen in zahlreichen Tiefstlohnsegmenten. Und ebenfalls haben der “Freie Markt” und die “Freie Marktwirtschaft” bis heute nicht verhindern können, dass die Klimaerwärmung ungehindert voranschreitet und das Überleben des Menschen auf diesem Planeten im schlimmsten Falle sogar früher oder später in Frage stellt. Die Idee eines “Freien Marktes” mag zwar auf den ersten Blick einzuleuchten. Aber funktionieren würde das nur, wenn alle an diesem Markt Beteiligten die gleich langen Spiesse hätten. Doch in einer Welt, in der Macht und Reichtum zwischen Menschen, Wirtschaftsmächten und Ländern so ungleich verteilt sind wie in der unseren, muss die Idee des “Freien Marktes” reine Illusion bleiben. Wenn nämlich der “Freie Markt” die Grundversorgung der Menschen gewährleisten würde, dann würden die Güter zu jenen Menschen fliessen, welche sie brauchen. Tatsächlich aber fliessen in der heutigen global verbreiteten “Freien Marktwirtschaft” die Güter nicht dorthin, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo es genügend Menschen gibt, die das nötige Geld haben, um diese Güter auch tatsächlich erwerben zu können. Dies erklärt, weshalb in Europa nicht nur tonnenweise Lebensmittel, sondern auch tonnenweise Medikamente im Müll landen, während es in zahlreichen Ländern des Südens an beidem mangelt – mit tödlichen Folgen. Es erklärt auch, weshalb in zahlreichen Ländern des Südens von multinationalen Konzernen Wasser aus Quellen angezapft oder aus dem Boden gepumpt und in Form von Mineralwasser in die reichen Länder des Nordens transportiert wird – während die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Gebiete immer weitere Fusswege zurücklegen müssen, um sich wenigstens ein Minimum an täglicher Wasserversorgung zu sichern. Zahllose weitere Beispiele von den Rohstoffen aus afrikanischer Erde bis zu den Textilien aus Bangladesh und den Spielsachen aus China liessen sich aufzählen. So lange die Verhältnisse so sind, wie sie sind, haben “Freier Markt” und “Freie Marktwirtschaft” nichts, aber auch nicht das Geringste mit Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen von Mensch und Natur zu tun. Ganz im Gegenteil. Wenn man ehrlich wäre, würde man nicht von “Freiem Markt” sprechen, sondern von “Freier Ausbeutung”. Nur jene, die auf der Sonnenseite sind, können den Begriffen des “Freien Marktes” und der “Freien Marktwirtschaft etwas Positives abgewinnen – für jene auf der Schattenseite ist es schlicht und einfach die Hölle. Höchste Zeit, Reichtum und Macht weltweit so gerecht zu verteilen, dass ein wahrhaft freier Markt tatsächlich zum Wohlergehen aller funktionieren würde, als gegenseitiger gleichberechtigter Austausch von Gütern, von Arbeit und von Begabungen von Mensch zu Mensch und in alles übergreifendem Respekt gegenüber Pflanzen, Tieren und den natürlichen Lebensgrundlagen.