“Linke” und “rechte” Politik und die Sehnsucht nach einer besseren Welt

 

Das weltweit aktuelle Aufkommen autoritärer und rechtsgerichteter Parteien und Regierungen erklärt sich die US-Historikerin Anne Applebaum in der “NZZ am Sonntag” vom 7. März 2021 wie folgt: “Man hat viel zu lange nicht anerkannt, dass viele Menschen mit der rapiden Modernisierung und den wirtschaftlichen Veränderungen nicht zurande kommen. Man hat nicht anerkannt, dass diese Leute etwas verloren haben, was ihnen wichtig war. Und es gab dieses Gefühl der Unvermeidlichkeit, dass die Globalisierung in dieser Form nicht aufzuhalten sei. Die Leute hatten dadurch das Gefühl, sie könnten nichts mehr bestimmen, sie könnten nicht mehr teilnehmen an der Politik. Und man hat den Menschen diese Handlungsfähigkeit nicht zurückgegeben. Diesen Menschen bieten die rechten Vordenker eine radikale Alternative: Stürzt das System! Wir geben euch eine andere Vision der Welt.” Applebaum hat Recht: Dass die Globalisierung – und das ihr zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem – sich immer mehr in einer Sackgasse verfangen haben, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, tritt immer offensichtlicher zutage. Nicht nur die Menschen, die immer mehr der früheren Sicherheiten und Gewissheiten verloren haben, leiden in zunehmendem Masse darunter. Auch die Natur ächzt und stöhnt unter der Globalisierung und ihrem unersättlichen Drang, auch noch den letzten Winkel der Erde dem Zwecke der Gewinnsucht und der Profitmaximierung zu unterwerfen. Das Tragische daran: Nur “rechte” Parteien und Bewegungen scheinen einen Ausweg aus dieser Irrfahrt aufzuzeigen. Die meisten sogenannt “linken” Parteien und Bewegungen klammern sich nach wie vor an den kapitalistischen Weg, versprechen zukünftige Lösungen bloss innerhalb der “Freien Marktwirtschaft”, die aber doch bloss ein anderes Wort ist für Globalisierung und Kapitalismus. Weiterhin streuen die meisten “linken” Parteien und Bewegungen den Menschen Sand in die Augen, indem sie vorgeben, der Kapitalismus lasse sich reformieren und zu einem menschenfreundlichen System umbauen. Sie haben nicht den Mut, sich endlich vom Kapitalismus und seinen unzähligen Irrfahrten loszusagen und eine gänzlich neue Seite im Geschichtsbuch aufzuschlagen. Damit aber überlassen sie das Feld der Zukunftsgestaltung ausgerechnet jenen “rechten” Bewegungen und Parteien, die zwar von “Visionen” einer neuen Welt fabulieren, selber aber mit beiden Beinen tief in der Logik der kapitalistischen Denk- und Wirtschaftsweise verharren und diese oft sogar noch ins Extrem treiben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es erst, wenn die Linke ihrerseits den Mut aufbringt, die Vision einer neuen Welt ins Leben zu rufen, eine Vision, welche diesen Namen tatsächlich verdient und nicht bloss eine mehr oder weniger schlechte Kopie des Bisherigen ist. Keine Frage, immer mehr Menschen sehnen sich darnach: Eine vom der US-Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 in 28 Ländern bei 34’000 Menschen durchgeführte Umfrage ergab, dass 56 Prozent der Befragten finden, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. “Die Menschen bezweifeln, dass die Welt, in der wir heute leben, optimal für eine gute Zukunft ist”, so Studienleiter David Bersoff. Zu den genannten Sorgen zählten das Tempo des technischen Fortschritts, die Arbeitsplatzunsicherheit, das Misstrauen in die Medien und das Gefühl, dass die nationalen Regierungen den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen seien. Das Ergebnis dieser Studie zeigt, dass Parteien, die einen klar antikapitalistischen Kurs führen würden, in vielen Ländern auf einen Schlag die absolute Mehrheit erringen müssten. Worauf warten wir denn noch? Was hält uns davon ab, das unerlässliche Ziel einer Überwindung des Kapitalismus endlich umzusetzen, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten? Die Menschen brauchen – neben der täglichen Arbeit und den täglichen Beschäftigungen – Visionen und Nahrung für ihre Sehnsüchte, leidenschaftliche Debatten, Ausblicke in eine bessere, lebenswertere Zukunft, Hoffnung auf eine neue Zeit, an deren Grundlagen wir hier und heute schon arbeiten können, den Mut, Bisheriges radikal in Frage zu stellen und Neues, noch nie Gedachtes zu erdenken. Auf diesem Weg sind uns die Jugendlichen, welche sich in der Klimabewegung engagieren, schon ein grosses Stück vorausgegangen. Höchste Zeit, dass auch wir Erwachsene uns zu bewegen beginnen und den ersten Schritten unzählige weitere folgen lassen…