Wenn 55 Prozent der Deutschen finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt

 

“Die CDU ärgert sich rot und grün” – so kommentiert die Tagesschau des Schweizer Fernsehens das Ergebnis der Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021. Und der “Tages-Anzeiger” spricht gar von einem regelrechten “Debakel für die CDU”. In der Tat: Während in Baden-Württemberg die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer obenaus schwangen, brach die CDU auf historische Tiefstwerte ein. Bei den übrigen Parteien hielten sich Verluste und Gewinne in engen Grenzen, auffallend ist einzig das schlechte Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern. So weit so gut – oder eben so schlecht, je nachdem von welcher politischen Warte aus man es betrachtet. Doch handelt es sich bei solchen “demokratischen” Wahlen nicht letztlich um eine Farce, eine immense Selbsttäuschung, ein in letzter Konsequenz durch und durch inszeniertes Nullsummenspiel? Wie komme ich auf diesen Gedanken? Nun, wenn man sich die Inhalte der einzelnen Parteien etwas näher anschaut, dann gibt es zwar durchaus gewisse graduelle Unterschiede. Doch letztlich stehen alle auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Keine der zur Wahl angetretenen Parteien fordert klar und deutlich die Überwindung des Kapitalismus und aller mit ihm verbundenen Zwangsläufigkeiten von der laufend weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Gewinnmaximierung bis hin zum blinden Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, der Hauptursache für den Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen. Selbst die “Linke”, die man sich noch am ehesten als antikapitalistische Kraft vorstellen könnte, führte einen überaus moderaten Wahlkampf. Schaue ich mir die Website der “Linken” an, so wird zwar an wenigen Stellen der Begriff Kapitalismus mit dem Hinweis auf seine Unzulänglichkeiten erwähnt, die ganze Palette der von der Partei vorgeschlagenen Reformen bewegt sich aber insgesamt innerhalb der kapitalistischen Logik, man hat den Eindruck, dass die Partei den Kapitalismus nicht wirklich überwinden will – sonst müssten ihre Forderungen viel radikaler sein -, sondern bestenfalls zähmen, so wie dies, weniger weit gehend, auch die SPD anstrebt. Selbst die als Aussenseiterpartei angetretene “Klimaliste” beschränkt sich auf die Forderung nach “konsequenten Klimaschutzmassnahmen” und verzichtet auf die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Kapitalismus zweifellos unverkennbar ist. Grob gesagt: Eine Demokratie, welche diesen Namen verdient, müsste den Menschen nicht nur die Wahl zwischen ein bisschen mehr oder weniger Umweltschutz, zwischen ein bisschen mehr oder weniger sozialer Sicherheit oder ein bisschen mehr oder weniger Förderung des öffentlichen Verkehrs anbieten. Sie müsste den Menschen auch die Wahl anbieten, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben möchten, oder ob die Zeit reif wäre dafür, diesen Kapitalismus mit allen mit ihm verbundenen Unzulänglichkeiten und Zerstörungen zu überwinden. So gesehen sind die herrschenden “demokratischen” Parteien nicht wirkliche Alternativen, zwischen ihnen liegen keine Welten, ihr Denken und ihre Sprache sind beinahe deckungsgleich, sie sind, einfach gesagt, nur Nuancen und Fraktionen einer Grossen Kapitalistischen Einheitspartei, zu der eine antikapitalistische Gegenpartei als echte Alternative schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Wenn die “Sieger” dieser Landtagswahlen nun jubeln und die “Verlierer” am Boden zerstört sind, dann jubelt, unsichtbar, vor allem einer: Der Kapitalismus. Er ist noch einmal davon gekommen. Er ist wieder für vier Jahre an der Macht – egal ob ganz vorne die CDU, die SPD oder die Grünen stehen. Nun könnte man einwenden, dass die Menschen mit dem kapitalistischen “Einheitsbrei” offensichtlich einverstanden seien und sich eine Alternative zum kapitalistischen System gar nicht wünschen. Für diese These würde auch die Tatsache sprechen, dass die “Linke”, die noch am ehesten einer antikapitalistischen Kraft entspricht, weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die 5-Prozent-Hürde der Wählerinnen- und Wählerstimmen geschafft hat. Offensichtlich aber klafft die tatsächliche Lebensrealität der Bevölkerung und die Welt der Politik meilenweit auseinander. Denn, wie eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 ergeben hat, finden nur zwölf Prozent der befragten Deutschen, dass das “System für sie arbeitet”, 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form “mehr schadet als nützt”. Woher dieser immense Widerspruch? Die Menschen scheinen immer deutlicher zu spüren, dass irgendetwas “nicht mehr stimmt”. Aber sie sehen noch keine Alternative. Die einzige Alternative, die sie kennen, sind der Kommunismus und der Sozialismus der früheren DDR und der Sowjetunion. Und das, nämlich die Wiederholung gescheiterter Gesellschaftsmodelle, will freilich niemand, und deshalb klammert man sich lieber an den Kapitalismus, den man wenigstens kennt und von dem man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, erhofft, dass trotzdem alles eines Tages besser wird. Das Fazit: Es müsste darum gehen, eine Gesellschaftsutopie zu entwickeln, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern ebenso den Sozialismus und den Kommunismus früherer Zeiten. Eine solche Alternative muss es geben – will sich die Menschheit nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Das beste Potenzial, um eine solche Alternative zu entwickeln, hätte wohl die “Linke”. Hierzu freilich müsste sie mehr als eine Überwindung des Kapitalismus fordern. In jedem einzelnen Punkt müsste sie aufzeigen, wie jenes Leben aussähe, von der wir doch alle insgeheim träumen, ein Leben ohne gegenseitige Ausbeutung und gegenseitigen Konkurrenzkampf, ein Leben in sozialer Gerechtigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Und selbstverständlich muss eine solche Vision länderübergreifend entwickelt werden – so wie der Kapitalismus international vernetzt ist, genau so müssten sich auch die antikapitalistischen Kräfte international vernetzen. Im September sind die deutschen Bundestagswahlen. Es bleibt noch Zeit, an der Vision für eine Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten…