… und sie dann händeringend einem Job nachrennen müssen, den es vielleicht schon gar nicht mehr gibt.

 

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass soziale Fortschritte, sind sie erst einmal errungen, nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden können. Nun muss ich mich eines Besseren belehren lassen: Gemäss einem Bundesgerichtsentscheid vom 9. März 2021 müssen Frauen nach einer Scheidung zukünftig ihren Lebensunterhalt selber verdienen und erhalten von ihrem ehemaligen Ehegatten keine Unterhaltsbeiträge mehr. Mit dieser Regelung werde, so die Argumentation des Bundesgerichts, dem Bild der “modernen und berufstätigen Schweizerin” Rechnung getragen. Keine Frage: Dass geschiedene Männer ihrer früheren Frau lebenslang Unterhaltsbeiträge zahlen müssen, ist aus Sicht des Mannes höchst ungerecht. Aber kann man ein Unrecht aufheben, indem man dafür ein anderes in die Welt setzt? Wenn eine Frau, die sich vielleicht zehn oder 15 Jahre lang ausschliesslich oder während der meisten Zeit mit der Arbeit im Haushalt und mit der Erziehung der Kinder abgemüht hat, nun plötzlich infolge einer Scheidung vom einen Tag auf den anderen auf der Strasse steht und händeringend einem Job nachrennen muss, den es vielleicht schon gar nicht mehr gibt – dann ist das wohl mindestens so ungerecht oder vielleicht sogar noch um einiges ungerechter, als wenn ein Mann lebenslang Unterhaltungsbeiträge zahlen muss. Dies umso mehr, als viele Männer gerade dank der Familienarbeit ihrer Frau sich beruflich hoch arbeiten, Karriere machen und bedeutende Lohnzuwächse generieren konnten, all das, was ihren Frauen während der Zeit der gemeinsamen Ehe versagt geblieben ist. Nun mag man einwenden, dass zahlreiche Frauen nebst Haushalt und Kindererziehung einer ausserhäuslichen beruflichen Tätigkeit nachgehen und Väter oft einen Teil der Familienarbeit übernehmen. Doch die grosse Mehrheit der Ehepaare lebt noch ein traditionelles Rollenbild: Die Väter sind zu 80 oder 100 Prozent berufstätig, die Mütter kümmern sich um Haushalt und Kindererziehung und gehen, wenn überhaupt, nur einem kleinen Teilpensum ausserhäuslicher Erwerbsarbeit nach. Bei alledem geht gerne vergessen, dass Frauen, die sich “nur” oder hauptsächlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern, durchaus eine vollwertige, anspruchsvolle und oft mühsame berufliche Tätigkeit ausüben, die nur deshalb kein gesellschaftliches Gewicht hat, weil sie nicht entlohnt wird. Tatsächlich aber ist die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmanns eine der gesellschaftlich wichtigsten Aufgaben, die man sich nur vorstellen kann. Nur wenn sich Eltern aufmerksam um ein gutes Zuhause und gute Bedingungen für das Aufwachsen ihrer Kinder kümmern, kann eine nächste Generation von Menschen heranwachsen, die den zukünftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen gewachsen sind. Ausgerechnet jene, die sich am meisten um diese Arbeit kümmern, mit Schikanen, Geringschätzung und Benachteiligungen aller Art zu bestrafen, ist wohl alles andere, aber gewiss kein gesellschaftspolitischer Fortschritt. Doch was für Lösungen wären denkbar? Viele Lösungsvorschläge wurden schon diskutiert, sind aber leider alle noch nicht mehrheitsfähig. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde, unabhängig vom Zivilstand, ein existenzsicherndes Einkommen für Männer wie auch für Frauen garantieren und den Druck, möglichst schnell und vielleicht auch zu schlechten Bedingungen wieder ins Erwerbsleben einzusteigen, wesentlich abfedern.  Ein Hausarbeitslohn würde einem der anspruchsvollsten und gesellschaftlich wichtigsten Berufe endlich jene Wertschätzung entgegenbringen, die ihm gebührt, und obendrein eine volle Rentenleistung im Alter garantieren. Ein Einheitslohn über alle Berufe würde noch einen Schritt weitergehen und es Frauen und Männern jederzeit möglich machen, jede beliebige berufliche Tätigkeit anzunehmen, ohne dadurch eine Lohnreduktion in Kauf nehmen zu müssen, im Gegensatz zur heutigen Praxis, wo in typischen Männerberufen immer noch weit mehr verdient wird als in typischen Frauenberufen und daher auch eher die Männer als die Frauen einer ausserhäuslichen Berufstätigkeit nachgehen. Schliesslich wäre es vielleicht auch an der Zeit, wieder einmal die Forderung nach einem Recht auf Arbeit aufzugreifen, um die Menschen vor der zermürbenden und erniedrigenden Jobsuche und dem Verkraften hunderter von Absagen bis hin zur drohenden Langzeitarbeitslosigkeit mit all ihren verheerenden menschlichen und gesellschaftlichen Folgen zu befreien. Der Entscheid des Bundesgerichts, dass geschiedene Frauen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssten, ist, ohne eine entsprechende soziale Abfederung, wohl definitiv ein Schritt in die falsche Richtung. Besonders stossend und geradezu ungeheuerlich ist die Tatsache, dass dieser Entscheid von einem fünfköpfigen Gremium des Bundesgerichts gefällt wurde, dem ausschliesslich Männer angehören. Wo bleibt der Aufschrei der Frauen? Es wäre doch nichts anderes als anständig, wenn fünf Bundesrichterinnen noch einmal über die gleiche Sache beraten würden. Vielleicht käme dann etwas anderes, Besseres heraus, etwas, was dem Bild der “modernen Schweizerin” tatsächlich auch in einem umfassenden und nicht nur rein ökonomischen Sinn entsprechen würde.