Alle, die wollten, könnten reich werden: Das Märchen, das bis auf den heutigen Tag weitererzählt wird…

 

Im Gratisblatt “20minuten” vom 10. Mai 2021 werden die Lehrlingslöhne verschiedener Berufsgruppen miteinander verglichen. So etwa verdient eine Coiffeuse im ersten Lehrjahr zwischen 500 und 700 Franken und im dritten Lehrjahr zwischen 700 und 1000 Franken, während es beim Maurerlehrling 957 im ersten Lehrjahr und 1862 Franken im dritten Lehrjahr sind. Kommentiert werden diese Zahlen von Urs Casty, Gründer und Chef der Lehrstellenplattform Yousty. Er sagt: “Der Lohn sollte nicht im Vordergrund stehen. Wichtiger ist, dass die Lehre Spass macht. Und mit der Karriere und dem Lohn geht’s dann automatisch weiter. Denn man kann überall viel Geld verdienen, wenn man will.” Aha, das alte Märchen vom Tellerwäscher, der zum Millionär geworden ist. Dieses Märchen, das sich längst als reine Illusion erwiesen hat. Erstaunlich, dass es heute immer noch “Fachleute” gibt, welche sich an diesem Wunschdenken festklammern. Wer behauptet, alle, die wollten, könnten viel Geld verdienen, soll mal einer Verkäuferin, einer Coiffeuse, einer Krankenpflegerin, einem Koch oder einem Kehrichtmann erklären, was genau sie wollen und um wie viel mehr sie sich anstrengen müssten, um “viel Geld zu verdienen”. Die Antwort wird wahrscheinlich lauten, dass sie sich halt weiterbilden, Karriere machen und in der Berufshierarchie aufsteigen müssten. In dreifachem Sinne ein höchst fadenscheiniger und widersprüchlicher Lösungsvorschlag. Denn erstens gibt es nun mal nicht in jedem Berufszweig adäquate Aufstiegsmöglichkeiten. Zweitens haben nicht alle die zeitlichen und finanziellen Mittel, sich umfassend weiterzubilden. Und drittens wäre es ja auch gesamtgesellschaftlich alles andere als wünschbar, wenn alle, die schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben, “Karriere” machen würden. Wer würde dann noch unsere Haare schneiden, wer würde unsere Strassen bauen, wer würde die Gestelle im Supermarkt auffüllen, wer würde unsere kranken und betagten Menschen pflegen? Nein, der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass zu wenige  Menschen Karriere machen und in der Berufshierarchie so lange aufsteigen, bis sie endlich einen anständigen Lohn haben. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass sich Millionen werktägiger Menschen, die Tag für Tag anspruchsvollste und härteste Arbeit leisten, dennoch mit Löhnen abfinden müssen, die bis zum Dreihundertfachen kleiner sind als jene der am meisten Verdienenden. Dabei ist der kleine Lohn und all die damit verbundenen finanziellen Einschränkungen nur das Eine. Das Andere ist, dass dies alles nur zu oft noch mit dem Gefühl verbunden ist, an der misslichen Situation selber Schuld zu sein. Denn, wie schon wieder sagte es Urs Casty – und so wie er denken und argumentieren auch unzählige andere, die sich in den obersten Etagen der Einkommenspyramide befinden -: Es könne ja jeder, wenn er wolle, reich sein. Was im Klartext nichts anderes heisst: Wer arm ist, der ist eben selber Schuld. Wie viel Aufklärung und wie viel Zeit braucht es wohl noch, bis diese verheerende Lüge aus der Welt geschafft ist und die heute so eklatanten Lohnunterschiede zwischen “oben” und “unten” endlich der Vergangenheit angehören?