2050: Im Museum des Kapitalismus

 

In Berlin gibt es das Museum der DDR, wo die Besucherinnen und Besucher einen umfassenden Einblick bekommen, wie man im ehemaligen Ostdeutschland lebte und wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft damals organisiert waren. Stirnerunzeln, Verwunderung, ungläubiges Staunen und nicht selten auch Erleichterung darüber, dass die damalige sozialistische Staatsmacht mit ihrer Einheitsdoktrin und einem umfassenden Spitzelsystem endgültig der Vergangenheit angehört. Rund 60 Jahre später, im Jahre 2050 oder so, wird es in New York, London oder Singapur das Museum des Kapitalismus geben und auch dort werden die Besucherinnen und Besucher aus dem Staunen nicht herauskommen, dass so etwas jemals möglich war. Dass ein Hundertstel der Weltbevölkerung fast die Hälfte des gesamten Weltvermögens besass und die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung gerade mal einen Hundertstel davon. Dass es sich die Menschen in den reichen Ländern des Nordens leisten konnten, mehr als einen Drittel der eingekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen, während weltweit jeden Tag zehntausend Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Dass nicht wenige Menschen in den reichen Ländern, selbst ohne zu arbeiten und bloss aus dem Anteil an Erbschaften oder Aktien, an jedem einzelnen Tag um ein Vielfaches mehr verdienten als ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Textilarbeiterin in Bangladesch trotz härtester Arbeit während ihres ganzen Lebens. Dass die Menschen aus den reichen Ländern in alle Länder der Welt reisen konnten und überall mit wärmster Gastfreundschaft willkommen geheissen und verwöhnt und ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde, während umgekehrt die Menschen aus den armen Ländern, wenn sie in den reichen Ländern Schutz vor Armut oder Krieg zu finden hofften, bloss mit Stacheldrahtzäunen, meterhohen, unüberwindbaren Mauern, Hass und Ablehnung empfangen wurden. Dass nicht nur die armen Menschen den reichen Menschen wie Sklaven und Sklavinnen ausgeliefert waren und damit der Reichtum der Reichen in immer schwindelerregendere Höhen hinaufgetrieben wurde, sondern dass in diesem Plan unaufhörlichen Wachstums auch die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Natur dem Zweck endloser Profitmaximierung unterworfen waren: masslose Abholzung von Regenwäldern im Sekundentakt, Gifte und immer aggressivere Anbau- und Erntemethoden zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, Tropenfrüchte aus Hungergebieten auf den Tellern der Reichen, Abertausende Hühner zusammengepfercht in viel zu engen Ställen, die sich gegenseitig zu Tode bissen. Und dass zu allem Überdruss, wie wenn das nicht alles schon genug wäre, Unmengen von Geld weltweit in die militärische Aufrüstung gesteckt wurden und so viele Waffen aufgetürmt worden waren, dass man die ganze Erde damit gleich mehrfach hätte vernichten können. Und wenn jetzt in diesem Museum des Kapitalismus ein Kind seine Mutter oder seinen Vater fragt, wie denn das alles möglich gewesen sei und wie die Menschen das alles ausgehalten hätten, reich zu sein, während andere hungerten, und so viele andere seltsame Dinge zu tun, obwohl sie ja wussten, dass sie damit ihren eigenen Untergang herbeiführen würden, wenn ein Kind alle diese Fragen stellt, dann wird sich seine Mutter oder sein Vater wohl lange überlegen müssen, was für Antworten sie darauf geben könnten. Und dann, nach langem Überlegen, wird der Vater oder die Mutter vielleicht sagen: Weisst du, das ist zwar schwer zu erklären, aber ich glaube, es war die Macht der Gewohnheit. Wenn man genug lange etwas tut und alle anderen es auch tun und auch früher schon alle es getan haben, dann meint man, es sei normal, obwohl es eigentlich verrückt ist. Schon den Kindern hatte man mit der Muttermilch den Kapitalismus eingeträufelt und in der Schule ging dann das nahtlos weiter und die Kinder lernten, gegeneinander um Macht, Ansehen und Erfolg zu kämpfen, egal, ob andere darunter litten oder nicht. Auch die Ökonomen, die am ehesten noch etwas hätten ändern können, waren von der kapitalistischen Muttermilch durchdrungen und predigten die Lehre des Kapitalismus in allerhöchstens sich unerheblich voneinander unterscheidenden Varianten. Und auch die Politiker und Politikerinnen verhielten sich nicht anders. Man redete zwar von Demokratie und von Freiheit, aber im Grunde waren auch die verschiedenen Parteien nichts anderes als einzelne Flügel einer grossen kapitalistischen Einheitspartei und unterschieden sich nur durch unerhebliche Differenzen. Die Menschen meinten zwar, sie hätten die alten Religionen überwunden und lebten in völliger Freiheit. Im Grunde aber war diese Freiheit nichts anderes als ein unsichtbares Gefängnis, in dem sich eine ganz neue Religion etabliert hatte, die Religion des Geldes. Für Geld taten sie alles, es anzuhäufen, es anderen abzutrotzen, aus ihm Häuser zu bauen, die bis in den Himmel wuchsen, ja selbst um damit ihren eigenen Untergang vorzubereiten. Erstaunt und ein bisschen durcheinander von so viel Unbegreiflichem will das Kind nun wissen, wie denn das Zeitalter des Kapitalismus zu Ende gegangen sei. Das, sagt seine Mutter, sei keine einfache Frage. Vieles sei zur gleichen Zeit an vielen Orten anders geworden. Schlüsselfiguren seien Kinder und Jugendliche gewesen, an vorderster Front eine sechzehnjährige schwedische Schülerin namens Greta, die im Jahre 2017 eine millionenfache weltweite Bewegung ausgelöst hätte, zunächst gegen den drohenden Klimawandel und seine zerstörerischen Folgen für die Zukunft der Menschheit, dann aber immer mehr auch für die Vision einer von Grund auf neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Basis sozialer Gerechtigkeit und eines guten Lebens für alle. Irgendwann, berichtet die Mutter, sei die Bewegung nicht mehr aufzuhalten gewesen, umso mehr, als immer mehr Menschen erkannt hätten, dass sowohl der Klimawandel, wie auch die haarsträubenden Gegensätze zwischen Arm und Reich, die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur im Dienste schrankenloser Profitmaximierung und letztlich auch all die Kriege um Macht, Rohstoffe und Profite alle den gleichen Ursprung gehabt hätten, eben das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wahrscheinlich sei es vor allem den Kindern und Jugendlichen, die einen so wesentlichen Anteil an diesem Wandel getragen hätten, aber auch den Frauen, die ebenfalls führende Rollen übernommen hätten, zu verdanken, dass der Übergang von der kapitalistischen in die nachkapitalistische Zeit so gewaltlos und sanft verlaufen sei – eine Revolution ohne Blutvergiessen, etwas, was die Menschheit in dieser Form noch nicht gekannt hätte…