Die Abstimmungen vom 13. Juni 2021: Plädoyer für eine Demokratie, die den gesellschaftlichen Fortschritt beflügelt

 

Ja, wir Schweizerinnen und Schweizer verfügen glücklicherweise über das demokratische Recht, über Dinge abstimmen zu können, die in anderen Ländern ausschliesslich von Parlamenten oder Regierungen bestimmt werden. Doch die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 über ein neues CO2-Gesetz für mehr Klimaschutz, über eine Trinkwasser- und eine Pestizidinitiative für eine umweltschonendere Landwirtschaft sowie über ein neues Antiterrorgesetz haben gezeigt, dass demokratisches Mitbestimmungsrecht nicht gleichbedeutend sein muss mit gesellschaftlichem Fortschritt: Die drei Umweltvorlagen wurden abgelehnt, das Antiterrorgesetz, das selbst gegen unbescholtene Bürgerinnen und Bürger bei Verdacht auf politisch unliebsame Äusserungen Anwendung finden kann und das damit hinter Saudiarabien zum weltweit zweitschärfsten Gesetz dieser Art zählen wird, wurde angenommen. Nun kann man sagen: Das sind nun mal die demokratischen Spielregeln. Die Mehrheit entscheidet. Und die unterlegene Minderheit muss dies diskussionslos akzeptieren. Doch so einfach ist das nicht. Ein Blick in die Geschichte zeigt nämlich, dass sich die Mehrheit auch irren kann. So etwa wurden sowohl die Einführung einer Altersvorsorge wie auch das Frauenstimmrecht mehrmals abgelehnt, bis sie endlich die notwendige Mehrheit fanden. Was “richtig” und was “falsch” ist, lässt sich erst über längere Zeiträume hinweg erkennen. Ich wage zu behaupten, dass die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 zu jenen Abstimmungen zählen werden, deren Ergebnis schon in wenigen Jahren als “falsch” angesehen werden könnte, spätestens dann nämlich, wenn gutes Ackerland durch unverminderten Einsatz von Pestiziden seine natürliche Fruchtbarkeit verloren haben wird, wenn die Klimaerhitzung jenen Kipppunkt erreicht haben wird, an dem sie sich nicht mehr rückgängig machen lässt, und wenn die ersten Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen im Gefängnis landen, weil sie zu einem radikalen Sturz der kapitalistischen Staats- und Wirtschaftsordnung aufgerufen haben. Keine Frage: Demokratie ist gut und wichtig und soll auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Aber sie kann nicht funktionieren in einem luftleeren Raum, in dem eine Benzinpreiserhöhung um ein paar wenige Rappen oder die Erhöhung von Flugticketpreisen um zwanzig oder dreissig Franken mehr politisches Gewicht bekommt als die Frage unseres gemeinsamen Überlebens auf diesem Planeten. Wenn die Demokratie nicht zum Spielball unterschiedlicher Machtgruppen verkommen, sondern weitblickend den gesellschaftlichen und ökologischen Fortschritt beflügeln soll, dann braucht sie so etwas wie eine ethische Grundlage. Nebst den Wahlen und Abstimmungen, die meist stark von den finanziellen Mitteln der verschiedenen Parteien und Verbänden beeinflusst sind und in denen nicht selten die billigsten Schlagwörter und Argumente mehr Gewicht erhalten als fundierte Tatsachen, müssten so etwas wie lokale Gesprächsgruppen gebildet werden, in denen Gegnerinnen und Befürworter aktueller politischer Vorlagen am gleichen Tisch sitzen und gegenseitig ihre Argumente austauschen. Heute ist das Gegenteil der Fall: Jede Gruppe schliesst sich in ihre “Blase” ein und will von den “gegnerischen” Gruppen möglichst nichts wissen. Paradebeispiel für diese gegenseitige Polarisierung ist die “Arena” des Schweizer Fernsehens: “Freund” und “Feind”, “Gut” und “Böse” sitzen sich gegenüber, niemand versucht den anderen zu verstehen, es geht bloss darum, die eigene Position zu verteidigen und hierfür möglichst viele Argumente ins Feld zu führen. So wird das Ganze zum gegenseitigen Schlachtfeld und es geht am Ende nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um “Sieg” oder “Niederlage”. In lokalen, gemischt zusammengesetzten Gesprächsgruppen ginge es hingegen vielmehr darum, Argumente und Gegenargumente gegenseitig ernst zu nehmen, zu lernen und, wenn nötig, auch die eigenen Positionen zu überdenken. Eine Demokratie, die nicht ist, sondern die wächst. Eine Demokratie, die nicht den Schlagabtausch zwischen verschiedenen Interessengruppen fördert, sondern den gemeinsamen gesellschaftlichen Fortschritt. Ganz im Sinne des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, der sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”