Plädoyer für eine Kultur der Langsamkeit

 

In mehreren rot-grün regierten Schweizer Städten sind neuerdings Temporeduktionen auch auf Hauptstrassen in Planung. Längerfristig denkt man vielerorts an eine flächendeckende Einführung von Tempo 30. Gegen dieses Vorhaben erwächst nun massiver Widerstand ausgerechnet seitens der Verbände des öffentlichen Verkehrs: “Es ist klar”, so Ueli Stückelberger, Präsident des Verbandes öffentlicher Verkehr im “Tagblatt” vom 10. Juli 2021, “dass der öffentliche Verkehr mit generell Tempo 30 auf den Hauptachsen der Städte unattraktiver wird.” Werde der ÖV langsamer, so Stückelberger, nutzten ihn die Leute weniger. Man liefere ihnen damit einen Grund, sich wieder ans Steuer eines Autos zu setzen. Noch schlimmer sei die mögliche Einführung von Tempo 20 in Wohnquartieren: “Das wäre ein Albtraum. Wer will schon in Trams und Bussen sitzen, die langsam fahren?” Langsam oder schnell – das ist nicht nur eine Frage, welche die Gemüter von Stadtplanern, Velofahrenden, Fussgängerinnen und Politikerinnen erhitzt. Es ist auch eine Frage, mit der wir in unserem Alltag pausenlos konfrontiert sind und die uns zeigt, dass wir offensichtlich, ohne uns dessen stets bewusst zu sein, in einer Kultur einer sich laufend selber beschleunigenden Geschwindigkeit leben. Bleiben wir vorerst beim Verkehr: Messungen über Jahrzehnte hinweg haben ergeben, dass sich die Menschen in den Städten zu Fuss immer schneller fortbewegen. Auch das Fahren mit der Eisenbahn hat sich im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts immer mehr beschleunigt: Heute kann sich niemand mehr vorstellen, dass man früher gut schon mal eine halbe Stunde oder länger am Bahnhof auf den nächsten Anschluss warten musste, im Gegenteil, heute ist es “normal”, dass sich die Menschen beim Umsteigen auf den nächsten Zug förmlich die Beine aus dem Leib reissen müssen und ältere oder gehbehinderte Menschen schon gar keine Chance mehr haben, ein solches Tempo mitzuhalten. Auch wenn es um Millionenbeträge geht, um irgendwo wieder einen neuen Tunnel zu bauen – von keiner Seite wird ein Einwand erhoben, solange man mit dem neuen Tunnel die Fahrzeit zwischen A und B um drei, vier oder fünf Minuten verkürzen kann. “Ihr Zeitverlust beträgt 20 Minuten” – so tönt es immer dann aus dem Autoradio, wenn sich wieder irgendwo ein Stau gebildet hat und sich das Ziel in der geplanten Zeit nicht erreichen lässt, aber niemand stellt die alles entscheidende Frage, ob man denn, ob im Auto, im Zug oder anderswo, Zeit tatsächlich überhaupt “verlieren” kann. Aber die Kultur der Geschwindigkeit betrifft längst nicht nur den Verkehr. Sie ist auch die unumstrittene Maxime jeglicher wirtschaftlicher Aktivität, wo in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung gefordert wird und der Zeitdruck, dem die arbeitenden Menschen unterworfen sind, immer verheerendere Auswirkungen nach sich zieht. Aber auch im privaten Alltag soll stets alles möglichst schnell gehen: Das bei Amazon bestellte Päckli soll so schnell wie möglich zuhause sein. Bestimmt wartet man auch im Restaurant nicht gerne allzu lange auf das Essen. Und das Einfamilienhaus, das man sich bauen lässt, soll so schnell wie möglich fertig sein – sogar Bauschäden, weil auch mitten im Winter weitergebaut wird, nimmt man bereitwillig in Kauf. Ganz abgesehen vom E-Bike, mit dem man nun in kürzerer Zeit doppelt so weit kommt, vom neuen Internetanschluss, mit dem sich noch weit schneller als bisher surfen lässt, und von der Tiefkühlpizza, die ungleich viel schneller zubereitet ist, als wenn man die Pizza selber zubereiten und vorerst noch alle Zutaten einkaufen müsste. Auch in der Erziehung der Kinder scheint das Primat der Geschwindigkeit höchste Priorität zu haben: Die Kinder sollen möglichst schnell erwachsen werden und den “unfertigen” Zustand des Kindseins hinter sich lassen. Spätestens hier müssten wir innehalten und eine Denkpause einlegen. Denn gerade das Kind ist das beste Beispiel dafür, dass “zeitloses” Tun etwas vom Reichsten und Wertvollsten ist. Wer hat noch nie ein Kind gesehen, das an einem Bächlein gespielt hat, die Hände ins Wasser getaucht, aus Steinen eine kleine Staumauer gebaut, mit Gräsern eine “Suppe” gekocht hat, stundenlang, ganz so, als hätte es die Zeit um sich herum ganz und gar vergessen. Ja, Zeit kann man nicht verlieren, man kann sie nur gewinnen. Von den Kindern lernen würde heissen: Diese Jagd nach allem und jedem mit der gnadenlosen Uhr im Rücken endlich aufgeben, denn irgendwann kann sowieso nicht alles immer noch schneller werden. Wenn wir uns heute, und vieles deutet darauf hin, an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter befinden, dann wird dieser Übergang wohl nicht zuletzt auch ein Übergang sein von einer Kultur der Geschwindigkeit hin zu einer Kultur der Langsamkeit. Und dann, ja dann, würden alle noch so gerne in Trams und Bussen sitzen, die “langsam fahren” und jede Sekunde das Lebens zum unverzichtbaren Genuss werden lassen…