Dringend nötiger Politikwechsel: Gemeinsame Wahrheitssuche statt Kampffeld gegenseitiger Beschuldigungen

 

Er sei dümmlich, ein Wortverdreher, ein Lügner, ein Mann ohne Visionen und es gehe ihm bloss um die Macht – so tönt es beim linksgrünen Lager und seinen Anhängerinnen und Anhängern, wenn vom CDU-Bundeskanzlerkandidaten Armin Laschet die Rede ist. Sie sei eine Hochstaplerin, eine Schwätzerin und habe grosse Teile ihres eben veröffentlichten Buches gar nicht selber geschrieben – so kontern das bürgerliche Lager und seine Anhängerinnen und Anhänger, wenn von der grünen Bundeskanzlerkandidatin Analena Baerbock die Rede ist. Streiten und Debattieren gehören zweifellos zu jedem Wahlkampf. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied. Nämlich, ob die Sache im Mittelpunkt steht oder ob es bloss darum geht, den politischen “Gegner”, die politische “Gegnerin” mit allen Mitteln fertigzumachen. Die Sache wäre wichtig genug, ihr alle Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit zukommen zu lassen. Die Sache, das ist die Zukunft, in der wir in fünf, zehn oder zwanzig Jahren leben werden. Ob ein Überleben auf diesem Planeten in dieser Zeit für die Menschen überhaupt noch möglich ist. Späteren Generationen wird es vollkommen egal sein, ob die deutsche Bundeskanzlerkandidatin des Jahres 2021 beim Schreiben eines Buches geschummelt hat oder nicht. Es wird ihnen höchstwahrscheinlich auch völlig egal sein, wie viele Male ein Bundeskanzlerkandidat des Jahres 2021 gelogen und wie viele Noten seiner früheren Schülerinnen und Schüler er gefälscht hat. Es wird ihnen aber nicht egal sein, was die Politiker und Politikerinnen des Jahres 2021 getan haben, um den Klimawandel zu stoppen und sich für eine Welt einzusetzen, in der alle Menschen über alle Grenzen hinweg ein gutes Leben haben. Es kommt mir vor wie das Bild vom Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Die Bäume, das sind die einzelnen Menschen, die Ökonomen, die Expertinnen, die Konzernchefs, die Politikerinnen und Politiker. Der Wald, das ist das übergeordnete System des Kapitalismus, in dem wir leben, agieren und unsere jeweilige spezifische Rolle spielen. Wer einen einzelnen Baum fällt, hat nichts gewonnen, unzählige andere wachsen kann. Es geht um den Wald als Ganzes. Es geht um die grosse Frage, ob der Kapitalismus mit seinen zerstörerischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen auf diesem Planeten überhaupt noch eine Zukunft hat. Darüber müsste gestritten und debattiert werden. Weg von den Bäumen. Hin zum Wald. Das würde bedeuten, dass die politische Diskussion zugleich sanfter und radikaler würde. Sanfter, indem man den einzelnen Menschen mit viel grösserem Respekt begegnen und davon ablassen würde, jedem möglichst viele Fehler und Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben. Denn dann würde man erkennen, dass sowohl Analena Baerbock wie auch Armin Laschet und alle ihre Kontrahentinnen und Kontrahenten nicht in zwei verschiedenen Booten sitzen, sondern im grossen gleichen Schiff, das nur einen gemeinsamen Untergang kennt oder ein gemeinsames Überleben. Radikaler aber würde die Debatte dadurch, dass es dann eben nicht mehr um individuelle Banalitäten wie geschummelte Bücher oder gefälschte Noten ginge, sondern eben um die Kernfrage des gemeinsamen Überlebens. Denn wir haben mit dieser Frage und ihren Lösungen mehr als genug zu tun und es ist schlicht und einfach eine Verschwendung von Zeit und Energie, uns stattdessen die Köpfe gegenseitig einzuschlagen. Was für eine Vision: Politische “Gegner” und “Gegnerinnen” sitzen sich nicht mehr in Feindesstellung gegenüber, um gegenseitig möglichst viele giftige Pfeile abzuschiessen. Nein, sie sitzen gemeinsam an runden Tischen, wo auch die “einfachen” und “gewöhnlichen” Leute aus dem Volk ihren Platz haben. Und sie versuchen, indem sie einander ernstnehmen, einander zuhören, einander ihre Fehler verzeihen, gemeinsam die Wahrheit zu suchen. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”