Eine Vision: Die Universitäten als Brennpunkte gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Zukunftsgestaltung

 

Im Samstagsgespräch des “Tagesanzeigers” vom 14. August 2021 befasst sich die Ökonomin Isabel Martinez mit den wachsenden Unterschieden zwischen Arm und Reich, dem Einfluss der Bildung auf den Wohlstand und der 99-Prozent-Initiative der schweizerischen Juso. “Vermögen und Einkommen in der Schweiz”, so Martinez, ” sind seit den 90er-Jahren überproportional gewachsen, das oberste 0,01 Prozent der Bevölkerung hat in den 90er-Jahren zwischen 4,5 und 6 Prozent aller Vermögen gehalten, jetzt sind es zwischen 8 und 12 Prozent. Das Kuchenstück der Reichen hat sich also in den letzten zehn Jahren verdoppelt.” Auf die Frage, weshalb das so sei, lacht Martinez und meint: “Wenn ich diese Frage so einfach beantworten könnte, könnte ich auf den Nobelpreis spekulieren.” Ich staune. Ich bin zwar alles andere als ein Nobelpreisträger und meine ökonomischen Kenntnisse würde ich eher als rudimentär bezeichnen. Dennoch weiss ich, wie bald jedes Kind, dass stets Reichtum Voraussetzung ist für noch mehr Reichtum. Ich weiss, dass einmal vorhandenes Geld, genug geschickt angelegt, stets die Tendenz hat, sich selber zu vermehren. Ich weiss auch, dass ein Unternehmen dann am meisten Gewinn macht, wenn die Differenz zwischen Aufwand und Ertrag möglichst gross ist, was nichts anderes heisst, als dass Firmenbesitzer, Managerinnen und Aktionäre ihre Erträge indirekt daraus generieren, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Ich weiss auch, dass von jedem Franken, den ich im Supermarkt ausgebe, der kleinste Teil an die Produzentinnen und Produzenten, der grösste Teil aber an die höheren Angestellten, die Firmenchefs und allfällige Kapitalbeteiligte geht. Ich weiss auch, dass man durch den Besitz von Immobilien, die man möglichst gewinnbringend vermietet, sagenhaft reich werden kann, ohne dafür einen Finger krumm machen zu müssen. Und ich weiss auch, dass die meisten Reichen nicht zuletzt deshalb so reich sind, weil sie bereits angehäuftes Kapital von der vorangegangenen Generation, die ihrerseits schon weit überdurchschnittlich reich war, erben konnten. Dass die Ökonomin dies alles nicht zu wissen scheint und die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich eher als so etwas wie ein Naturereignis betrachtet, dem man machtlos gegenübersteht, zeigt, wie sehr eben auch Ökonominnen und Ökonomen – oder zumindest die meisten unter ihnen – Teil dieses kapitalistischen Systems sind, das uns alle bis in unsere äussersten Hirnwindungen durchdringt. Ein System, das uns vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen lässt. Ein System, das wir von klein auf in uns aufgesogen haben, so dass wir uns etwas grundlegend anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Selbst sämtliche unserer Hochschulen, wo doch angeblich die gescheitesten, neugierigsten und kritischsten Menschen sitzen müssten, verkünden das Hohe Lied des “freien Marktes”, was aber bloss ein anderes Wort für Kapitalismus ist. Wird nicht stets an allen Ecken und Enden der “freie Wettbewerb” propagiert? Dann sollte dies aber nicht nur ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Automarken, Küchengeräten und Turnschuhen sein, sondern auch ein Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsvisionen, von denen der Kapitalismus dann nicht mehr die alleinseligmachende wäre. Dann wären Hochschulen auf einmal nicht mehr nur Vermittlerinnen von althergebrachtem Wissen, sondern Brennpunkte radikaler Zukunftsgestaltung – angesichts der heutigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedrohungen dringender nötig denn je. Und dann würde eine Ökonomin, die man fragen würde, weshalb der Kapitalismus so sei wie er sei, sich kaum mehr verlegen lachend mit der Antwort abfinden, man müsste eben, um diese Frage zu beantworten, eine Nobelpreisträgerin sein.