Höchste Zeit für eine neue Kultur der Bescheidenheit und der Sanftheit

 

Bescheidenheit, Grosszügigkeit, Nächstenliebe und Sanftheit sind, wie die “Wochenzeitung” vom 26. August 2021 berichtet, die wesentlichen Elemente des Sufismus, einer islamischen Lehre, welche Afghanistan über tausend Jahre lang wesentlich prägte. Nicht ohne Grund bezeichnet man deshalb heute die Literatur, die Musik, die Kalligrafie und die Architektur dieser mystischen Bewegung  als eines der wichtigsten afghanischen Kulturerben. Der Sufismus geht davon aus, dass alle Menschen – unabhängig von Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und Religion – einen göttlichen Funken in sich tragen, der ihnen Würde verleiht. Mit dieser Grundhaltung könnte der Sufismus im heutigen Afghanistan wesentlich dazu beitragen, die tiefgreifenden ethnischen Spaltungen und Machtkämpfe im Land zu überwinden. Doch leider hat der Sufismus im Gefolge jahrzehntelanger kriegerischer Auseinandersetzung immer mehr an Boden verloren und ist von Hass, Intoleranz, Gewalt und Krieg überrollt worden. Auch haben es die westlichen Besatzungskräfte unter der Führung der USA versäumt, beim “Nationbuilding”, dem Aufbau eines “modernen” afghanischen Staatsgefüges, auf die so wertvolle, jahrtausendealte Tradition des Sufismus zurückzugreifen. Dabei wäre die Botschaft des Sufismus nicht nur für Afghanistan, sondern ganz allgemein in der heutigen Zeit weltweiter Spaltungen, Krisen und Bedrohungen aktueller denn je: dass jeder sich bemüht, in seinem vermeintlichen “Gegner” jenen “göttlichen Funken” zu sehen, der ihm Würde verleiht. Dabei müssen wir nicht einmal in die USA zu den erbitterten Machtkämpfen zwischen Republikanern und Demokraten, zum Konflikt zwischen Brexitbefürwortern und Brexitgegnern in Grossbritannien, zu den Spannungen zwischen radikalen Moslems und radikalen Hindus in Indien oder in den deutschen Bundestag schauen, wo sich die Abgeordneten der verschiedenen Parteien gegenseitig in Grund und Boden schimpfen. Wir können uns auch bei der eigenen Nase nehmen und uns die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern von Coronaschutzmassnahmen und Impfungen vor Augen führen, dies mitten in einem Land wie der Schweiz, das auf seine demokratische Tradition doch so stolz ist. Diese Gehässigkeiten haben mittlerweile ein so hohes Mass erreicht, dass Gesundheitsminister Alain Berset bei seinem heutigen TV-Auftritt in der Sendung “Arena” sogar von einem Sonderkommando vor möglichen Tätlichkeiten geschützt werden muss. Von der sufistischen Weisheit, wonach jeder Mensch einen “göttlichen Funken” in sich trägt, der alle Menschen miteinander verbindet, sind wir meilenweit entfernt. Dabei ist all das, was Menschen miteinander verbindet – auch wenn sie noch so zerstritten sein mögen -, doch allemal viel grösser und wesentlicher als das, was sie voneinander trennt. Nicht umsonst steht die Forderung der Feindesliebe auch im Zentrum der christlichen Überlieferung. Haben wir das alles vergessen? Erinnern wir uns an unsere christlichen Wurzeln immer nur noch dann, wenn gerade Ostern oder Weihnachten gefeiert wird? Vielleicht stehen wir ja gerade heute weltweit an einem Scheideweg, der keinen Mittelweg mehr zulässt: Entweder folgen wir dem Weg der Liebe, der Sanftheit, der Bescheidenheit. Oder dem Weg des Hasses und der Gewalt bis hin zu ihrer extremsten Form, dem Krieg. Dies hatte wohl schon der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King vor über 50 Jahren mit prophetischem Weitblick vorausgesehen, als er sagte: “Wenn wir nicht lernen, miteinander als Brüder und Schwestern zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen.”