Deutsche Bundestagswahlen: Wo sind die Visionen?

 

Erste öffentliche TV-Debatte auf RTL am 29. August 2021 zwischen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet. Doch wer genau hingehört hat, dem muss aufgefallen sein: Nur auf den ersten Blick ging es dabei um unterschiedliche politische Positionen und Programme zwischen den drei Parteien und den drei Kanzlerkandidaten. Denn im Kern waren sich alle einig: Der Kapitalismus bleibt als herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unangetastet, die Frage nach einer “Systemänderung” ein Tabu, an dem nicht gerüttelt wird, nicht einmal von den “Linken”, die am “Kanzlergipfel” infolge ihrer tiefen Umfragewerte schon gar nicht einmal vertreten waren. Somit gaukeln die verschiedenen Parteien eigentlich nur eine demokratische Vielfalt vor, während sie tatsächlich nichts anderes sind als die Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Dabei wäre die Frage nach einer Systemänderung, nach einer Überwindung des Kapitalismus drängender, ja geradezu lebensnotwendiger denn je. 500 Jahre Kapitalismus haben unseren Planeten an den Abgrund gefahren: Während er einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung sagenhaften Reichtum beschert hat, wurden ganze Länder und halbe Kontinente ins Elend gestürzt. Auch in den “reichen” Ländern sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich grösser denn je und nehmen laufend noch zu. Zudem haben die Unersättlichkeit und Profitgier des kapitalistischen Wachstumsprinzips dazu geführt, dass schon weite, früher fruchtbare Lebensräume unbewohnbar geworden sind und der fortschreitende Klimawandel das Überleben ganzer zukünftiger Generationen in Frage stellt. Wie wenn das alles noch nicht genug wäre, haben der weltweite kapitalistische Konkurrenzkampf um Märkte und Rohstoffe und das damit verbundene Wettrüsten dazu geführt, dass heute weltweit Waffenarsenale zur Verfügung stehen, welche die Menschheit gleich mehrfach vernichten könnten. Noch ist es nicht ganz so weit, doch wir stehen unmittelbar davor: Es kommt der Punkt, da gibt es keine Kompromisse mehr, keine Kompromisse mit der Natur, keine Kompromisse mit der Gerechtigkeit, keine Kompromisse mit dem Frieden, nur noch ein Scheideweg, der auf der einen Seite in den Abgrund führt, auf der anderen in ein von Grund auf neues Zeitalter. Der Schritt in dieses neue Zeitalter wird nicht gehen ohne ein neues Denken, eine neue Sprache, eine neue Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Sanftmut und Liebe. Die Jugendlichen der Klimabewegung leben es uns vor: Da ist etwas Neues in die Welt gekommen, noch zaghaft, aber unbeirrt und voller Lebenskraft. Eine neue Zeit, in der nicht mehr wohlgeschliffene Politiker mit ihren jahrhundertealten Worthülsen das Sagen haben, sondern Philosophen und Poetinnen, die uns eine neue Geschichte erzählen, Kinder und Jugendliche, die von einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit träumen. Als die DDR 1989 kollabierte und das sozialistische Schiff unterging, gab es ein zweites Schiff, auf das sich die Menschen retten konnten, das kapitalistische Schiff der “Freien Marktwirtschaft”. Heute ist es schwieriger. Jetzt, wo auch das kapitalistische Schiff in tödliches Schlingern geraten ist, steht kein drittes Schiff zur Verfügung, welches uns retten könnte. So braucht es unsere ganze Phantasie, unsere ganze Erfindungsgabe, um ein drittes Schiff zu bauen, das uns in die Zukunft tragen kann. Ob nicht auch Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet, ja wir alle diesen Traum insgeheim tief in unseren Herzen tragen, jenen Traum von einer friedlichen und gerechten Welt, der für jedes Kind schon bei seiner Geburt lebendig ist, ein Traum, der uns alle gegenseitige Rechthaberei, jedes gegenseitige Machtgebaren und alle gegenseitigen Schuldzuweisungen vergessen machen und uns Menschen weltweit miteinander verbinden könnte? Ganz so, wie es schon vor über 50 Jahren der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King vorausgesehen hatte, als er sagte: “Entweder lernen wir, als Brüder und Schwester gemeinsam zu überleben, oder wir gehen als Narren miteinander unter.”