Die Menschheit und ihr uralter Traum von der sozialen Gerechtigkeit

 

Vier von fünf Deutschen, so berichtet der “Tagesanzeiger” vom 24. September 2021, halten die Welt für ungerecht. Dies das Ergebnis einer von der Lindauer Stiftung Friedensdialog durchgeführten Studie. Dieser Befund deckt sich mit einer 2017 ebenfalls in Deutschland durchgeführten Befragung, wonach 92 Prozent der Deutschen den Leitwert der sozialen Gerechtigkeit für wichtig halten. Auch eine vom Edelman-Kommunikationsbüro im Jahre 2020 durchgeführte Befragung geht in die gleiche Richtung: Für 55 Prozent der Deutschen richtet der Kapitalismus mehr Schaden als Nutzen an, indem er dazu beitrage, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr vergrössere. Soziale Gerechtigkeit – offenbar ein Grundbedürfnis des Menschen, das aber in der heutigen Welt mit ihren immensen sozialen Gegensätzen auf unerträgliche Weise immer und immer wieder verletzt wird. Drei Fragen stellen sich. Erstens: Woher kommen Gier und Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten, wenn der Mensch doch angeblich von Natur aus ein mitfühlendes, soziales Wesen ist? Zweitens: Was ist soziale Gerechtigkeit denn eigentlich in letzter Konsequenz? Und drittens: Wie könnte soziale Gerechtigkeit weltweit verwirklicht werden? Zur ersten Frage nach der Gier und dem Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten: Dies hat – so meine Hypothese – wesentlich mit dem gesellschaftlichen Selektionssystem zu tun, dem man schon in der Schule und später in der Arbeitswelt und der Wirtschaft unterworfen ist. Wer auf der Erfolgsleiter nach oben kommen will, muss stark, schnell und skrupellos sein – ob er sich auf dem Weg nach oben auch noch um Schwächere kümmert, danach fragt niemand. Umgekehrt bleiben Sensible, Soziale, Mitfühlende, Verletzliche häufig auf der Strecke. Man nennt es zutreffend auch die “Ellbogengesellschaft”. Und so muss man sich dann nicht wundern, dass sich am oberen Ende der Gesellschaft, sei es in der Wirtschaft, der Forschung, der Bildung, der Politik, jene Menschen ansammeln, denen es vor allem um ihr eigenes Ego geht, um Macht und Prestige – gewiss eine Minderheit der Bevölkerung, welche jene Fürsorglichkeit, durch welche sich eine Mehrheit der ganz “einfachen”, “gewöhnlichen” Menschen auszeichnen, ganz und gar nicht repräsentiert und die dennoch ungleich viel mehr Macht und Einfluss besitzt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Interessen zu bestimmen und zu beeinflussen. Zur zweiten Frage nach dem Wesen der sozialen Gerechtigkeit. Eigentlich ist es einfach: Es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass ein Mensch bloss aufgrund seines Geburtsortes, seiner sozialen Stellung oder seiner beruflichen Tätigkeit ein besseres oder schlechteres Leben haben sollte als irgendein anderer. Jeder Mensch trägt, indem er lebt und arbeitet, seinen individuellen Teil zum Erfolg und zum Gelingen des Ganzen bei und sollte daher auch den gleichen Teil wieder zurückbekommen wie alle anderen. In letzter Konsequenz müsste man daher einen weltweiten Einheitslohn einführen, alle Menschen müssten über gleich viel Nahrung und sauberes Trinkwasser verfügen wie alle anderen, gleich gute Wohnverhältnisse, die gleich gute Gesundheitsversorgung, den gleich guten Zugang zu Bildung und Kultur. Gewiss eine Utopie, die sich nicht heute oder morgen verwirklichen lässt. Nichtsdestotrotz dürfen wir sie nicht aus den Augen verlieren und uns stets bewusst sein, dass das Meiste, was als “soziale Gerechtigkeit” bezeichnet wird, nicht wirklich sehr viel damit zu tun hat, so zum Beispiel, wenn im aktuellen deutschen Bundestagswahlkampf von einzelnen Parteien eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 bzw. 13 Euro gefordert und dies schon als ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit gefeiert wird – während im gleichen Land Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener das 200- oder 300fache davon einheimsen. Die Utopie einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit, von der wir weiter entfernt sind denn je, muss uns als Stachel im Fleisch so lange und so quälend schmerzen und uns so viele schlaflose Nächte bereiten, bis sich die Utopie in Wirklichkeit verwandelt haben wird. Zur dritten Frage nach der Verwirklichung weltweiter sozialer Gerechtigkeit: Dies geht nicht ohne eine radikale Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der kapitalistischen Klassengesellschaft. Nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch wegen der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen. In der eingangs zitierten Studie des Lindauer Friedensdialogs nannte die Mehrzahl der Befragten das “Engagement von Stiftungen” als wirksamstes Mittel zur Realisierung weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Dies zeigt die unglaubliche Diskrepanz zwischen der Macht des real existierenden Kapitalismus und den fehlenden politischen Instrumenten, diese Macht zu brechen und durch ein von Grund auf neues, auf Frieden und Gerechtigkeit aufbauendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ersetzen. Und doch bleibt Hoffnung. Dass für die allermeisten Menschen die soziale Gerechtigkeit oberste Priorität hat, zeigt, dass wir, für eine bessere Zukunft, nicht so sehr den Menschen künstlich etwas aufzuzwingen brauchen, sondern dass es genügen müsste, all jene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie davon abhalten, ihre Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und nach dem guten Leben für alle Wirklichkeit werden zu lassen.