“Lohnteilen” – Modell für die zukünftige Arbeitswelt?

 

Auslöserin des Projekts “Lohnteilen” war die Coronakrise – so berichtet die “Wochenzeitung” vom 7. Oktober 2021. “Lohnteilen” geht auf eine Initiative von vier Schülerinnen aus Bern zurück. Die Idee ist einfach: Wer kann, gibt von seinem Lohn, wer aufgrund von Corona in eine finanzielle Notsituation geraten ist, bekommt etwas. Erstaunlicherweise meldeten sich auf einen ersten Aufruf viele, die ihren Lohn teilen wollten, aber niemand, der Geld wollte. Erst nach und nach trafen Gesuche für finanzielle Unterstützung ein, das Ganze kam immer mehr ins Rollen. Trotzdem ist das Projekt aus Sicht der Initiantinnen bloss ein erster kleiner Tropfen auf einen riesigen heissen Stein. “Eigentlich könnte es so einfach sein”, so das Fazit von Nora, einer der Begründerinnen von “Lohnteilen”. Und auch ich denke: Ja, so einfach könnte es sein. So einfach wie damals in Afrika, bevor die weissen Kolonialherren den Kontinent unter ihre Gewalt brachten: Am Morgen gingen die Männer des Dorfes zur Jagd. Gegen Abend kehrten sie mit ihrer Beute nach Hause. Die einen hatten zwei oder drei Affen erlegt, andere nur einen und wieder andere gar keinen. Nun legten alle Männer des Dorfes ihre Beute zusammen und alles Fleisch wurde in gleich grossen Stücken an alle Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner verteilt. Wäre dies nicht ein wunderbares Modell für eine zukünftige Gesellschaftsordnung, die nicht mehr auf individualistisches Streben nach Profit und Reichtum, sondern auf das Wohlergehen aller ausgerichtet wäre? Wo immer, im Kleinen wie im Grossen, finanzielle Profite erwirtschaftet werden, haben unzählige Menschen, sichtbar oder unsichtbar, kleinere und grössere Leistungen erbracht, um diese Profite überhaupt erst möglich zu machen. Nehmen wir eine Bank. Gäbe es kein Gebäude, in dem die Bank untergebracht ist, dann könnte sie auch keinen einzigen Franken Gewinn erzielen. Also haben die Bauarbeiter, die das Gebäude errichtet haben, einen unverzichtbaren Beitrag geleistet an den späteren wirtschaftlichen Erfolg der Bank, ohne allerdings an diesem beteiligt zu sein. Oder die Putzfrau, welche die Räumlichkeiten der Bank auf Hochglanz trimmt. Oder die Verkäuferinnen im Supermarkt, wo die Angestellten der Bank ihr Essen kaufen. Oder der Automechaniker, der dafür sorgt, dass die Fahrzeuge der Bankangestellten stets einwandfrei funktionieren und sie immer pünktlich bei ihren Kundinnen und Kunden sind. Oder die Briefträgerinnen und Briefträger, dank denen die Kundschaft der Bank stets fristgerecht ihre Post erhält. Sie alle und noch viele mehr leisten einen unverzichtbaren Beitrag an den Gewinn, den die Bank zum Jahresende erzielen wird, müssen sich aber mit Löhnen zufrieden geben, die weit unter dem liegen, was die Angestellten der Bank verdienen – von den Managern, Aktionärinnen und Aktionären schon gar nicht zu reden. Vieles, ja alles spricht dafür, dass ein “Lohnteilen” die vernünftigste und sozialste Sache der Welt wäre. Wie ein Kuchen, den alle miteinander gebacken haben und von dem am Ende auch alle wieder ein gleich grosses Stück erhalten müssten. Und es ist ja nicht nur die Bank. Es ist die gesamte Wirtschaft und Arbeitswelt, wo alles mit allem zusammenhängt und kein noch so geringster Gewinn eines Unternehmens möglich wäre ohne das Zutun zahlreicher Menschen, die viel schwere Arbeit verrichten und dennoch von den Früchten dieser Arbeit weitgehend ausgeschlossen bleiben. Logische Konsequenz wäre ein Einheitslohn über alle Wirtschaftszweige hinweg. Das genau gleich grosse Stück Fleisch, das am Ende des Tages unter allen Bewohnerinnen und Bewohnern des afrikanischen Dorfes verteilt wurde. Dies genau und auch wie es umsetzen wäre, haben die Schülerinnen des Projekts “Lohnteilen” vorgemacht: Wer überdurchschnittlich viel verdient, zahlt das überdurchschnittlich Verdiente in eine gemeinsamen Topf ein, wer unterdurchschnittlich wenig verdient, erhält aus diesem Topf die Differenz zum Durchschnittslohn. Ein reines Hirngespinst? Eine Utopie? Eine Illusion? Eine Träumerei? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. “Ein neuer Gedanke”, sagte Arthur Schopenhauer, “wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt.”