Damit bloss nicht die Ordnung der Reichen gestört wird…

 

Ich habe Brot gekauft und die Bäckerin bedankt sich bei mir freundlich für das bezahlte Geld – aber müsste nicht eigentlich ich mich bei ihr für das Brot bedanken, das sie früh am Morgen, als ich noch schlief, gebacken hatte? Und müsste nicht eigentlich die Kundin sich bei der Friseuse für die schöne neue Frisur bedanken und nicht die Friseuse für das bezahlte Geld? Und müssten nicht eigentlich die Gäste im Restaurant sich bei der Kellnerin für das gute Essen und die freundliche Bedienung bedanken und nicht die Kellnerin für das winzige Trinkgeld, das, zusammen mit ihrem Lohn, dennoch kaum zum Leben reicht? Ein altes alevitisches Sprichwort sagt: “Den Armen wird Dankbarkeit entgegengebracht, damit die Ordnung der Reichen nicht gestört wird.” So ist es. Wer über das nötige Geld verfügt, kann jede beliebige Dienstleistung in Anspruch nehmen, andere für sich arbeiten lassen und am Ende, wenn er seinen Geldbeutel zückt, erst noch das Gefühl haben, besonders grosszügig zu sein. Dabei ist es doch einzig und allein die Lage der Minderbemittelten, die sie dazu zwingt, in den Dienst der Reichen zu treten, so wie die Putzfrau sich in den Dienst des reichen Ärzteehepaars begibt oder die Prostituierte in den Dienst des Freiers – nicht freiwillig, sondern weil ihnen schlicht und einfach gar nichts anderes übrigbleibt. Nur verhältnismässig, aber nicht grundsätzlich unterscheiden sich solche Abhängigkeitsverhältnisse von der Sklaverei früherer Jahrhunderte, die wir längs überwunden glaubten. Aber im Grunde ist es nichts anderes, auch die Sklavinnen und Sklaven mussten ihren Herren am Ende eines unmenschlichen Arbeitstages dafür dankbar sein, einen Teller Suppe zu bekommen. Vollends absurd wird es, wenn wir an das “Trinkgeld” denken, das zum Beispiel eine Friseuse, eine Kellnerin oder ein Hotelzimmermädchen von ihrem Gast bekommen. Führen wir uns vor Augen, dass die grossen Lohnunterschiede ja nichts anderes sind als die Folge einer permanenten kapitalistischen Umverteilung und einer alles durchdringenden kapitalistischen Klassengesellschaft, dann bedeutet dies, dass höhere Löhne nichts anderes sind als gestohlenes Geld – gestohlen denen, die wenig oder fast gar nichts verdienen. Wenn nun also der Gast im Restaurant dem Kellner ein “Trinkgeld” gibt, dann bedeutet das nichts anderes, als dass er bloss einen winzigen Teil dessen, was er dem Kellner zuvor gestohlen hatte, ihm nun in Form des “Trinkgeldes” wieder zurückgibt. Dass der Kellner dafür auch noch dankbar sein muss, ist nur die letzte Konsequenz dieser Ungeheuerlichkeit. Dies lässt sich vergleichen mit dem, was man “Entwicklungshilfe” nennt: Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat berechnet, dass die Schweiz im Handel mit so genannten “Entwicklungsländern” einen 48mal höheren Gewinn erwirtschaftet, als den “Entwicklungsländern” wieder in Form von “Entwicklungshilfe” zurückgegeben wird, ganz so wie ein “Trinkgeld”, das den 48mal schlimmer beraubten Ländern “grosszügig” zurückerstattet wird und für das sie dann auch gefälligst dankbar zu sein haben. Und so schieben wir das Erbe längst vergangener Zeiten immer noch hartnäckig vor uns her, mit all den Lügen, Verdrehungen und dem falschen Denken in unseren Köpfen. Erst wenn alle Güter und aller Reichtum gerecht unter allen Menschen verteilt sind und das Geld nicht mehr Mittel zu Macht und Ausbeutung ist, sondern einzig und allein ein reines Tauschmittel für Waren und Dienstleistungen von Mensch zu Mensch, von Land zu Land, erst dann wird sich von Grund auf etwas verändern und wo die “Ordnung der Reichen” war, wird eine Ordnung der Gerechtigkeit sein.