Mythos Bildung – der falsche Weg

 

Eine Anzeige des Hilfswerks Caritas in meiner Tageszeitung: Einem afrikanischen Fischer mit Wollkappe wird folgendes Zitat in den Mund gelegt: “Meine Kinder werden nicht mehr Fischer sein.” Der Leser und die Leserin wird aufgerufen, zu diesem Zweck eine Geldspende zu leisten und so “das Richtige zu tun”. Doch ist es tatsächlich das “Richtige”? Ist Bildung, wie es so schön heisst, tatsächlich der Weg aus der Armut? Schaut man sich nur jene Menschen an, die tatsächlich den Aufstieg vom Fischer zum Dorflehrer oder gar zum Universitätsdozenten schaffen, dann mag dies ja möglicherweise zutreffen. Und doch geht die Rechnung nicht auf. Denn wenn alle Fischer eines Tages Dorflehrer oder gar Universitätsdozenten sind, dann gibt es niemanden mehr, der Fische fängt. Wenn alle Frauen, die jetzt Äcker und Felder bearbeiten, Krankenschwestern oder Ärztinnen sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Äcker und die Felder bearbeitet. Und wenn alle Männer, die jetzt Häuser bauen, Rechtsanwälte oder Banker geworden sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Häuser, Strassen und Brücken baut. Der Ruf nach immer mehr und mehr Bildung ist der falsche Weg und führt in eine katastrophale Sackgasse, nicht nur in den ärmeren Ländern des Südens, auch in den reicheren Ländern des Nordens. Der Skandal besteht nicht darin, dass die Menschen zu wenig gebildet sind. Der Skandal besteht darin, dass der Fischer und die Ackerbäuerin in Afrika, der Bauarbeiter, der Lastwagenfahrer und die Putzfrau in Europa oder den USA nur deshalb so arm sind, weil sie einen Beruf ausüben, der traditionell schlecht entlohnt ist und nur wenig gesellschaftliche Wertschätzung geniesst. Die Lösung liegt nicht darin, dass sich alle diese unterprivilegierten Arbeiterinnen und Arbeiter bis zum Gehtnichtmehr weiterbilden, um auf der gesellschaftlichen Erfolgsleiter möglichst weit nach oben zu kommen. Die Lösung würde vielmehr darin liegen, dass ihre existenziell so wichtige und unentbehrliche Arbeit fair entlohnt wird – in letzter Konsequenz bis hin zu einem weltweiten Einheitslohn – und endlich die Wertschätzung erfährt, die sie tatsächlich verdient. Dann wird der afrikanische Fischer im Inserat der Caritas nicht mehr sagen, dass seine Kinder eines Tages nicht mehr Fischer sein werden, sondern er wird sagen, dass seine Kinder endlich stolz darauf sein können, einen Beruf ausüben zu können, der mindestens so wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist als der Beruf eines Immobilienmaklers oder einer Computerspezialistin. In Anlehnung an eine uralte indianische Weisheit, wonach man Geld nicht essen kann, könnte man sagen: Erst wenn die letzte Universität gebaut, die letzte Semesterarbeit geschrieben und der letzte Doktortitel vergeben ist, wird man sehen, dass man von Bildung allein nicht leben kann.