Frauensession in Bern: zu früh um zu feiern…

 

Frauensession in Bern. Auf den 246 Stühlen, wo sonst die gewählten Parlamentärinnen und Parlamentarier sitzen, haben 246 Frauen Platz genommen. Die Frauen feiern. Sie singen, klatschen, jubeln, freuen sich über die erkämpften Fortschritte in der Sozial- und Gleichstellungspolitik und schauen voller Tatendrang in die Zukunft. “Ich bin überwältigt”, sagt Sophie Ackermann, die Geschäftsführerin des schweizerischen Dachverbands Alliance F, “Sie können sich nicht vorstellen, wie schön dieser Anblick ist.” Ob so viel Euphorie seien ein paar kritische Gedanken erlaubt. Ja, die Frauen in der Schweiz haben in den 50 Jahren seit der Einführung des Frauenstimmrechts politisch viel erreicht. Doch die erkämpften Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir allen diesen Erfolgen zum Trotz nach wie vor in einer durch und durch kapitalistischen Klassengesellschaft leben, an deren Grundstrukturen auch das Vordringen der Frauen in immer mehr Machtbereiche nicht grundsätzlich etwas geändert hat. Noch immer leben in der Schweiz rund 700’000 Menschen in bitterer Armut. Noch immer beträgt der Unterschied zwischen den Spitzenlöhnen und den Tiefstlöhnen das Verhältnis von 300 zu 1. Noch immer – und sogar noch immer mehr – wird man hierzulande nicht dadurch reich, dass man möglichst viel und schwer arbeitet, sondern dadurch, dass man von möglichst hohen Erbschaften profitiert oder von Unternehmensgewinnen, die letztlich von Menschen mit tiefen Einkommen in schwerer Arbeit erwirtschaftet wurden. Noch immer ist die gesellschaftliche Wertschätzung höchst ungleich verteilt und geniesst der Chefarzt im Spital oder die Rechtsanwältin ein viel höheres Ansehen als die Verkäuferin oder die Putzfrau. Noch immer gehören typisch “weibliche” Berufe zum traditionellen Tieflohnsegment, während die Löhne kontinuierlich in die Höhe steigen, je “männlicher” der entsprechende Beruf ist. Noch immer – und sogar immer noch mehr – ist die Arbeitswelt von gegenseitigem, oft nahezu mörderischem Konkurrenzkampf um Macht und Profite geprägt, einem Konkurrenzkampf, der schon in der Schule beginnt und die Kinder zu einem gegenseitigen Wettstreit um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zwingt. Noch immer ist die Wirtschaft auf permanentes, endloses Wachstum fixiert und noch immer verbraucht die Schweiz drei Mal so viele Ressourcen und Energie, wie die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Noch immer erzielt die Schweiz im Handel mit Entwicklungsländern einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern dann in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Noch immer betreibt die Schweiz eine Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die massgeblich für den Klimawandel und alle damit verbundenen ökologischen Zukunftsbedrohungen mitverantwortlich ist. Sehen wir uns die Erfolge der Frauenbewegung durch diese “kapitalismuskritische” Brille an, dann müssen wir konstatieren, dass die Frauen zwar seit Jahrzehnten in kapitalistische Machstrukturen hineingewachsen sind, diese aber dadurch nicht grundsätzlich hinterfragt oder umgestaltet wurden. Ein Beispiel: Die Lehrerin, die Teilzeit arbeitet – fraglos ein bedeutender gesellschaftlicher Fortschritt, wäre so etwas doch vor 40 oder 50 Jahren nur in seltenen Fällen möglich gewesen -, kann sich dies aber nur leisten, weil die Kitaangestellte, die ihr Kind betreut, so viel weniger verdient als sie selber und sie auch ihrer Putzfrau nur einen Bruchteil ihres eigenen Lohnes bezahlen muss. Die Lehrerin kann auch nur deshalb abends auswärts essen gehen, weil das Essen dank der tiefen Löhne des Kochs und der Kellnerin für sie genug erschwinglich ist. Und sie kann auch nur deshalb jedes Jahr neue Kleider und für ihre Kinder schöne neue Spielsachen kaufen, weil die Textilarbeiterinnen und die Fabrikarbeiter, welche diese Dinge herstellen, im Vergleich zu ihr, der Lehrerin, so erbärmlich wenig verdienen. So erfreulich der gesellschaftliche Fortschritt ist, den die Lehrerin geniesst – er ist nur möglich, solange die kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen nicht grundsätzlich angetastet werden. Von den zahlreichen Macht-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen in der globalisierten kapitalistischen Welt sind die Diskriminierung, die Benachteiligung und die Unterdrückung von Frauen nur eine von vielen, wenn auch zweifellos eine der gravierendsten. Und es ist keine Frage: Alles muss unternommen werden, um diese zu beseitigen. Aber damit sind wir noch lange nicht am Ende, sondern eigentlich erst am Anfang. Auch alle übrigen Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen müssen auf dem Weg zu einer solidarischen, gewaltfreien, ausbeutungsfreien Welt überwunden werden: Die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter durch all jene, die das nötige Kapital und die nötige Macht besitzen, um andere für sich arbeiten zu lassen. Die Ausbeutung der armen Länder des Südens durch die reichen Länder des Südens. Die Ausbeutung der Natur durch Raubbau, Gewinnsucht und unbegrenzte Profitmaximierung. Eigentlich wäre erst dann, wenn alle diese Ausbeutungsverhältnisse überwunden wären, die Zeit gekommen, um zu feiern, zu singen, zu klatschen und sich gegenseitig zuzuprosten…