In was für einer zerrissenen Welt leben wir eigentlich?

 

Schweizer Fernsehen SRF1, 1. November 2021, Werbeeinschaltung kurz vor der abendlichen Tagesschau: ein winziger Punkt in einem tiefblauen Himmel, der sich beim Näherkommen als das durch die Luft schaukelnde, hypermoderne neueste Mercedesmodell entpuppt. Engelsgleich segelt es weiter durch die Lüfte, wobei abwechslungsweise seine Innen- und seine Aussenansicht gezeigt wird. Schliesslich landet das Fahrzeug sanft im Irgendwo, eine Frau nimmt darin Platz und am blauen Himmel erscheint ein weisser Schriftzug: “This is for you, world!” Und darunter, etwas kleiner: “Der neue EQS – jetzt entdecken.” Kurz darauf kündigt TV-Korrespondent Sebastian Ramspeck einen in wenigen Tagen zu sehenden Dokumentarfilm mit folgenden Worten an: “Vergessen Sie Kreuzfahrten oder Skydiving für den Adrenalinkick. In der Zukunft geht’s in das Weltall. Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters. Bald ist die Welt nicht mehr genug.” Dazu die passenden Bilder, unter anderem eine Gruppe in die Luft schiessender Cowboys und eine vor Glück kreischende Astronautin in einer Weltraumkapsel. Verrückt. Ein Auto aus dem Himmel sozusagen als Geschenk für die Welt. Der Anfang eines neuen Zeitalters. Eine Welt, die “nicht mehr genug” ist. In was für einer zerrissenen Welt leben wir eigentlich? Kurz nach dem Auto aus dem blauen Himmel und dem Weltraumflug zum Start in ein neues Zeitalter wird die Tagesschau über die Eröffnung der Weltklimakonferenz berichten, von der man jetzt schon, bevor sie noch richtig begonnen hat, sagen kann, dass ihre Ergebnisse angesichts der drohenden Klimakatastrophe aller Voraussicht nach höchst ernüchternd und völlig unzureichend sein werden. Ja. Fliegende Autos, um sich schiessende Cowboys und eine glückvoll kreischende Astronautin am Anfang eines neuen Zeitalters. Und wenige Sekunden später die Hiobsbotschaften und Katastrophenmeldungen über die vom Klimawandel bereits angerichteten und in naher Zukunft in immer drastischerem Tempo zu erwartenden Zerstörungen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein. Ist es doch genau dieses Heilsversprechen, symbolisiert durch ein aus dem Himmel gefallenes Auto und den farbensprühenden Start einer Weltraumrakete, welche, zusammen mit Millionen weiterer Glücks- und Heilsversprechen, allen noch so gut gemeinten Bemühungen um Klimaschutzmassnahmen schliesslich den Todesstoss versetzen werden. Beides zusammen geht nicht. Früher oder später werden wir uns entscheiden müssen. Die Medien spielen eine herausragende Rolle. Beides wäre heute Abend nicht nötig gewesen. Weder das aus dem Himmel gefallene Auto noch die Verkündigung eines neuen Zeitalters anlässlich eines privaten Wochenendausflugs ins Weltall. An deren Stelle hätte das Schweizer Fernsehen auch einen fünfminütigen Kurzbericht zum Thema Klimawandel aussenden können, analog zur täglichen Sendung “Börse aktuell”. Also: “Klima aktuell” – jeden Abend zwischen 19.20 und 19.25 Uhr. Worauf warten wir noch?