Die Alternative zur Demokratie ist die Demokratie

 

“Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren”, meinte eine junge Frau, die unlängst an einer Strassenaktion von “Exstinction Rebellion” in Zürich teilnahm. Ähnliche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man an die Abstimmung über das schweizerische CO2-Gesetz denkt oder an die neu gewählte Regierung Deutschlands, welche bei Weitem nicht jene Erwartungen erfüllt, welche zahllose Wählerinnen und Wähler in Sachen Klimaschutz in sie gesetzt hatten. Hat sich die Demokratie überlebt? Wäre es an der Zeit, eine Art Diktatur einzuführen, um die wichtigsten Probleme unserer Zeit endlich einer Lösung entgegenzuführen? Nein, das wäre eine Bankrotterklärung sondergleichen. Denn die Demokratie ist, neben der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheit, wohl unser höchstes gesellschaftliches Gut. Es darf nicht darum gehen, die Demokratie abzuschaffen. Im Gegenteil. Es geht darum, sie weiterzuentwickeln, sie auf den neuesten gesellschaftlichen Stand zu bringen. Heute besteht Demokratie nämlich hauptsächlich darin, dass die Mehrheit Recht bekommt. Wenn einer Abstimmungsvorlage 50,1 Prozent der Bevölkerung zustimmen, dann wird sie umgesetzt, wenn sie von 50,1 Prozent der Stimmenden abgelehnt wird, dann fällt sie durch. Oder, wie in Deutschland: Wenn die SPD zwei Prozentpunkte mehr Wähleranteil als die CDU erreicht, wird sie zur Regierungspartei und wird den zukünftigen Bundeskanzler stellen – hätte sie zwei Prozentpunkte weniger Wähleranteil erzielt, dann wäre es genau gegenteilig herausgekommen. So wird die Demokratie zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, während die eigentlichen Grundinteressen und Bedürfnisse der Menschen auf der Strecke bleiben. Doch wie könnte man das ändern? Demokratie kann im luftleeren Raum nicht wirklich funktionieren. Sie braucht so etwas wie eine ethische Grundlage, einen gesellschaftlichen “Vorlauf”. In welcher Form ein solcher “Vorlauf” erfolgen könnte, ist schwer zu sagen. Aber vielleicht könnte es in der Richtung gehen, wie es bei den afrikanischen Urvölkern vor vielen hundert Jahren Brauch war: Da wurde über Beschlüsse, die das Dorf zu fällen hatte, so lange gesprochen, “palavert”, bis alle der gleichen Meinung waren. Das ging zweifellos nur, indem man einander aufmerksam zuhörte und aus den vielen kleinen Mosaiksteinchen schliesslich ein Ganzes geformt werden konnte. So ganz anders, als es uns in der “Arena”, der Diskussionssendung am Schweizer Fernsehen jeden Freitagabend, aber auch in den Talkshows auf den deutschen Kanälen vorgeführt wird: Jeder Gesprächsteilnehmer, jede Gesprächsteilnehmerin ist bemüht, “ihre” Wahrheit zu verkünden und die Meinungen der anderen möglichst klein zu reden. Anderen aufmerksam zuzuhören, anderen vielleicht auch mal Recht zu geben, eine gemachte Fehlaussagen zu korrigieren – gibt es nicht. Die Sendung “Club” zeigt, dass es auch anders gehen kann, vor allem dann, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nach Parteizugehörigkeit aufgespalten sind. Doch es braucht nicht nur eine andere Gesprächskultur. Es braucht auch so wie etwas wie ein gemeinsames Ganzes, Werte, die über den einzelnen Themen und Sachverhalten stehen und Verbindliches zwischen den einzelnen Parteien und Bevölkerungsgruppen schaffen können. Nichts würde sich dafür besser eignen als unsere schweizerische Bundesverfassung. Schliesslich hatte man sich zu dem Grundlagenwerk vor langer Zeit demokratisch bekannt und es ist nicht einzusehen, weshalb es nicht auch heute noch ein mindestens so hohes politisches Gewicht haben sollte wie irgendwelche Parteiprogramme oder Regierungserklärungen. Nur schon der Satz “Die Schweiz trägt eine Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen” würde so ziemlich alles auf den Kopf stellen, was unter heutiger Wirtschafts- und Umweltpolitik verstanden wird. Auch im deutschen Grundgesetz heisst es: “Der Staat schützt in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.” Höchstwahrscheinlich fänden wir diesen Grundsatz noch in zahllosen anderen Verfassungen und Grundgesetzen weltweit. Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Das Gemeinsame – das Bedürfnis nach Sicherheit, Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit auf einem lebenswerten Planeten – ist so viel grösser und umfassender als politische Grabenkämpfe und das kleinliche Gezänk um einzelne Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen. Nein, die Demokratie ist nicht abzuschaffen, im Gegenteil, sie ist auszubauen und weiterzuentwickeln zu einem Instrument, das in der Lage ist, die riesigen Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich zu lösen, durch eine ethische Basis, Orientierung an den Grundwerten, eine Neuauflage der “Palaverkultur” und die Besinnung auf das Gemeinsame, das so viel grösser ist als alles Trennende. Noch nie gab es eine solche Fülle von Weiterbildungsangeboten aller Art, noch nie hörte man so oft wie heute die Forderung nach “lebenslangem Lernen”. Da wäre es doch höchste Zeit, dass wir auch im Gesellschaftlich-Politischen weiterlernen und alles daran setzen, unsere Demokratie noch viel besser zu machen, als sie schon ist.