Die 35-Stunden-Woche: Weshalb wird uns einen Fortschritt leisten können, der für die überwiegende Mehrheit der Menschheit in unerreichbarer Ferne liegt

 

Die Swisscom, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 24. November 2021, ist mit der Forderung nach einer 35-Stunden-Woche an die Öffentlichkeit getreten – ein Anliegen, das auch von der SP seit Längerem verfochten wird und im Trend der Zeit liegt: Seit Jahrzehnten haben sich die wöchentlichen Arbeitszeiten in der Schweiz kontinuierlich verringert, die 16-Stunden-Arbeitstage  des 19. Jahrhunderts liegen in dunkler Vergangenheit. Doch so verlockend es für die Betroffenen auch sein mag: Es hat, wie alles im Kapitalismus, seine Schattenseiten. Die Arbeitszeiten haben sich im Laufe der Zeit nämlich nicht wirklich reduziert, sondern bloss verlagert. Und zwar von den sogenannt “qualifizierten” Jobs, wo gut verdient wird, zu den “Knochenjobs”, wo zwar sehr viel gearbeitet, aber kaum etwas verdient wird. Wenn man nämlich, zum Beispiel als Koch, als Strassenarbeiter, als Kellnerin oder als Verkäuferin – auch bei voller Erwerbstätigkeit und womöglich noch zusätzlichen Überstunden – dennoch nicht genug verdient, um eine Familie ernähren zu können, und daher der Ehepartner, die Ehepartnerin, gezwungen ist, ebenfalls, ob sie will oder nicht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, so bedeutet dies faktisch nicht eine Arbeitszeitverkürzung, sondern eine Arbeitszeitverlängerung: Um im Niedriglohnsektor die gleiche Lohnsumme zu erreichen wie früher, muss insgesamt länger gearbeitet werden, während in Berufen, wo man überdurchschnittlich viel verdient, ein einziger Lohn für den Lebensunterhalt genügt. Eine zweite Verlagerung hat stattgefunden zwischen den Löhnen und Arbeitsbedingungen hierzulande einerseits und den Löhnen und Arbeitsbedingungen im Ausland andererseits. Wenn sich Herr und Frau Schweizer auch mit dem Lohn einer 35-Stunden-Woche locker jede beliebige Anzahl von Kleidern und Schuhen leisten können, dann ist dies nur möglich, weil irgendwo in der Türkei oder in Bangladesch Hunderttausende von Arbeiterinnen genau zu jenen Hungerlöhnen und Arbeitszeiten schuften, die wir Glücklichen schon längst hinter uns gelassen haben. Auch all die Lebens- und Genussmittel in unseren Supermärkten sind nur deshalb so billig, weil die damit verbundene Arbeit nicht mehr hierzulande geleistet wird, sondern auf brasilianischen Kaffeeplantagen, auf spanischen Erdbeerfeldern, wo sich marokkanische und algerische Landarbeiterinnen und Landarbeiter zu Tode schuften, und in deutschen Schlachthöfen, wo polnische Leiharbeiter jene Arbeit verrichten, die nur noch wenige Deutsche oder Schweizer zu leisten bereit wären. Noch krasser ist es nur bei den Rohstoffen. Während afrikanische Minenarbeiter, wiederum zu Hungerlöhnen und an überlangen Arbeitstagen, wertvollste Bodenschätze zutage schürfen, ist ausgerechnet die Schweiz, welche über keinerlei Rohstoffe verfügt, Nummer eins im internationalen Handel und im Kaufen und Verkaufen dieser Güter. Da ist dann auch unsere Empörung über die in der “Dritten Welt” immer noch weit verbreitete Kinderarbeit nur scheinheilig. Den Reichtum, den wir geniessen, verdanken wir der Arbeit von Millionen von Menschen, die nicht genug verdienen, um davon leben zu können – da ist die Kinderarbeit, will man nur einigermassen über die Runden kommen, doch der einzige Ausweg, genau so wie in unseren Fabriken und auf unseren Bauernhöfen im 19. Jahrhundert. Kein Wunder, kann man sich dann, wenn andere so viel, so hart, so lange und zu so unmenschlichen Bedingungen und geringen Löhnen für uns arbeiten müssen, kürzere Arbeitszeiten leisten – auf Kosten all jener, die davon nicht einmal zu träumen wagen. Lösen lässt sich das Problem nur durch eine neue globale Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Ausbeutung beruht, sondern auf einer Überwindung der weltweiten Klassengesellschaft, auf gerechtem Teilen von Gütern und Reichtum und auf fairen – möglichst gleichen – Löhnen für alle. Damit nicht nur der schweizerische Swisscom-Mitarbeiter, sondern auch die schweizerische Kellnerin, die kongolesische Krankenschwester und der chilenische Hafenarbeiter in 35 Stunden pro Woche genug verdienen, um davon leben zu können. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”