Drohende “Parallelgesellschaft” nach der Abstimmung vom 28. November 2021?

 

Exponentinnen und Exponenten der Bewegungen, welche das Covid-19-Gesetz bekämpft haben, Coronaschutzmassnahmen und das Impfen ablehnen und unsere Landesregierung als “Diktatur” bezeichnen, haben nach ihrer Abstimmungsniederlage vom 28. November 2021 angekündigt, eine “Parallelgesellschaft” aufbauen zu wollen, mit eigenen Gesetzen, einem eigenen Wertesystem, einer eigenen Gesundheitspolitik, einer eigenen Krankenkasse. Steht eine solche Forderung nicht in totalem Gegensatz zum Ruf nach jener “urschweizerischen” Demokratie, welche gerade von den “Freunden der Verfassung” und den anderen behördenkritischen Gruppierungen bei jeder Gelegenheit lautstark beschworen wird? Man kann doch nicht Demokratie fordern und gleichzeitig, als Reaktion auf eine Abstimmungsniederlage, die Spaltung der Gesellschaft postulieren. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist sich dieses Widerspruchs zweifellos bewusst. Doch es genügt nicht, solche Forderungen bloss zu verurteilen. Man würde es sich zu einfach machen, Massnahmen- und Behördengegnerinnen und -gegner allesamt als “Schwurbler” und “Covidioten” abzutun und das Gespräch und die Begegnungen mit ihnen abzubrechen. Man kann durchaus eine klare eigene Meinung haben und dennoch gleichzeitig auch die Minderheit und politische Positionen, die einem unangenehm sind, ernst nehmen. Wenn diese Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet, dann ziehen sich alle Menschen bloss noch in ihre je eigene Blase zurück, in der sie sich gegenseitig verstärken und gegenüber gegensätzlichen Meinungen und Ideen immer blinder und unempfänglicher werden. “Ein echtes Gespräch”, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.” Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Gelingt es uns, Gemeinsames herauszufinden, dann sind wir auch besser in der Lage, uns mit dem Trennenden auseinanderzusetzen. Eine junge Lehrerin, die sich zu den “Massnahmengegnern” bekennt, erzählte mir von ihrem Traum von einer anderen Welt, in der die Menschen viel solidarischer wären als in der heutigen, sich selber versorgen würden und auch die Schule ganz anders wäre, viel näher bei den Bedürfnissen der Kinder. Hätte ich mich diesem Gespräch verweigert, wäre mir diese wertvolle Begegnung entgangen. Bereicherung erfahre ich nicht nur durch die, welche gleich denken wie ich, sondern vor allem auch durch jene, die anders denken. Doch hat solches Bemühen, Andersdenkende ernst zu nehmen und zu verstehen, auch seine Grenzen. Dann nämlich, wenn es sich um Menschen handelt, denen es nicht nur um ihre persönliche Meinung und ihre individuelle “Wahrheit” geht, sondern darum, eine eigene Machtpositionen aufzubauen, indem sie möglichst viele Gleichgesinnte um sich scharen. Solche Entwicklungen können dann in gefährliche Nähe von Fanatismus und der Aushebelung jeglicher Demokratie führen, das, was man auch von Sekten kennt. Doch gerade um solche Tendenzen zu verhindern, ist es umso wichtiger, die Begegnungen und den Gedankenaustausch mit Andersdenkenden nicht abzubrechen. Wer sich von anderen unverstanden und isoliert fühlt, wem andere aus dem Weg gehen, mit wem andere nicht mehr sprechen, der wird sich umso mehr an seiner Blase – und eben auch an möglichen Wortführern und Scharfmachern – festklammern. “Die Demokratie”, sagte der frühere britische Premierminister Winston Churchill, “ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ Das müssen wir, gerade in so schwierigen Zeiten wie der heutigen, im Interesse von uns allen hochhalten und unbeständig daran weiterarbeiten, denn die Demokratie ist viel zu wertvoll, um leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden.