Die hartnäckige Lüge, das Zeitalter des Kolonialismus sei vorüber

 

Auf einer Fläche von mehr als 27’000 Quadratkilometern, so berichtet der “Tagesanzeiger” vom 2. Dezember 2021, bauen Firmen, die von der Schweiz aus verwaltet werden, auf über 550 Plantagen in 24 Ländern unter anderem Zuckerrohr, Palmöl, Orangen und Kautschuk an. 27’000 Quadratkilometer, das ist um einiges mehr als die gesamte Schweizer Landwirtschaftsfläche, welche rund 14’500 Quadratkilometer beträgt. Doch nicht nur was die Plantagen unter eigener Verwaltung betrifft, sondern auch im gesamten globalen Rohstoffhandel ist die Schweiz Weltmeisterin: Ihr Anteil am globalen Goldhandel beläuft sich auf 67 Prozent, beim Kupfer sind es 60 Prozent, beim Palmöl 56 Prozent, beim Kaffee 53 Prozent, beim Zucker 44 Prozent, beim Rohöl 39 Prozent, bei der Kohle und beim Kakao je 35 Prozent. Kaum einer dieser Rohstoffe berührt jemals Schweizer Boden – umso gigantischer sind die Gewinne, welche Schweizer Firmen in Genf, Zug und im Tessin mit Rohstoffgeschäften machen. Betrachtet man die gesamten Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den sogenannten “Entwicklungsländern”, dann erwirtschaftet die Schweiz gemäss einer Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam dabei einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als diesen Ländern dann in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgegeben wird. Zudem, wenn wundert’s, gehört die Schweiz zu den global führendsten Finanzzentren. Rund ein Viertel des grenzüberschreitenden Vermögens der Welt werden in der Schweiz verwaltet. Der Finanzplatz Schweiz ist zudem führend in der Handelsfinanzierung und einer der wichtigsten Versicherungs- und Rückversicherungsstandorte der Welt. 

Doch allen diesen Tatsachen zum Trotz halten sich zwei Lügen nach wie vor hartnäckig am Leben. Die erste Lüge: Das Zeitalter des Kolonialismus sei vorbei. Tatsache ist, dass koloniale Strukturen und die Zweiteilung der Welt in Ausgebeutete und Ausbeuter die heutigen Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern schärfer prägen denn je. Es hat, in der Geschichte des Kolonialismus, nie so etwas gegeben wie einen totalen Bruch, einen totalen Neuanfang. Das Leben einer Landarbeiterfamilie irgendwo im Inneren Afrikas unterscheidet sich vom Leben ihrer Vorfahren vor 200 oder 300 Jahren ebenso wenig, wie sich das Leben eines schweizerischen Multimillionärs an der Zürcher Goldküste vom Leben seiner Vorfahren vor 200 oder 300 Jahren unterscheidet. Im Gegenteil, die Unterschiede sind eher noch grösser geworden: Während sich eine Milliarde Menschen nicht einmal ausreichend ernähren können, stieg die Anzahl der Milliardäre weltweit zwischen 2011 und 2021 von 1’210 auf 2’760! 

Die zweite Lüge: Die Schweiz sei nur deshalb das reichste Land der Welt, weil wir Schweizerinnen und Schweizer uns diesen Reichtum mit Fleiss und Intelligenz so hart erarbeitet hätten. Tatsache ist, dass zwar Fleiss, Sparsamkeit und Pioniergeist durchaus beim Aufbau des schweizerischen Reichtums eine wichtige Rolle gespielt haben, dass es die Schweiz aber gleichzeitig aufs Beste verstanden hat, sich die weltweiten kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen eigennützig auf vielfältigste Weise nutzbar zu machen. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb die Schweiz, welche fast als einziges Land gar keine eigenen Rohstoffe besitzt und auch nur über eine vergleichbar geringe Landwirtschaftsfläche verfügt, dennoch bis zum heutigen Tag das reichste Land der Welt geworden ist. 

Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative, welche eine Volksmehrheit gefunden hat, zeigt, dass das öffentliche Bewusstsein und die Sensibilität gegenüber der nicht nur rühmlichen Rolle der Schweiz als Nutzniesserin weltweiter kapitalistischer Ausbeutungsmechanismen offensichtlich im Wachsen begriffen ist. Das gibt Hoffnung. Auf dass es dann vielleicht doch noch eines Tages zu einem Ende des Kolonialismus und zum Anfang eines neuen Zeitalters kommt, in dem Weltwirtschaft nicht mehr auf Profitmaximierung und Ausbeutung beruht, sondern auf Kooperation, Fairness und dem guten Leben für alle.