120’000 Franken pro Woche für eine Villa am “besten Ort der Erde”

 

“Der beste Ort auf Erden” – dies der Titel einer Reportage im “Tagesanzeiger” vom 5. Januar 2022. Der beste Ort auf Erden – das ist Verbier im Kanton Wallis, wo sich wohlhabende Britinnen und Briten in eine “coronafreie” Luxuswelt zurückgezogen haben, fernab von ihrem Heimatland, wo die Infektionszahlen wieder mal so richtig in die Höhe schiessen. Der “Tagesanzeiger” berichtet von zwei Familien, die soeben im Privatjet in Genf gelandet sind und nun in Verbier erwartet werden. Der 25-Meter-Pool im Souterrain ist gereinigt, die Böden aus Walliser Granit desinfiziert und poliert. Und Privatkoch Joe bereitet zum Nachtessen ein mit Trüffeln versetztes Roasted Chicken vor. Luxus pur, für 120’000 Franken pro Woche. – Schärfer denn je zuvor hat die Coronapandemie die ganze Brutalität und Perversion der kapitalistischen Klassengesellschaft entlarvt. Während Abertausenden schlecht verdienenden Arbeiterinnen und Arbeitern gar nicht anderes übrig bleibt, als sich auch unter widrigsten Umständen weiterhin abzurackern, begleitet von der ständigen Angst, sich und ihre Familien mit einem gefährlichen Virus anzustecken, steigen ihre gutbetuchten Landsleute der Oberklasse in ihre Privatjets und finden am “besten Ort auf Erden” ihre sichere Zuflucht. Doch das ist erst die eine Seite der Geschichte. Die andere ist, dass diese Reichen und Privilegierten ausschliesslich auf eine schier endlose Zahl wiederum anderer Arbeiterinnen und Arbeiter angewiesen sind, um dieses Leben am “besten Ort auf Erden” überhaupt führen zu können. Wer hat das Poulet, das heute Abend serviert werden wird, gezüchtet, geschlachtet und präpariert? Wo wurden die Gewürze, die Koch Joe verwendet, um das Mahl möglichst schmackhaft zu machen, geerntet, wer hat sie sortiert, gewaschen, verpackt, von wem wurden sie transportiert, wer steuerte das Schiff, von wem wurden sie umgeladen und weitertransportiert? Wer sorgt dafür, dass das Wasser für den Swimmingpool stets sauber und in genügender Menge zur Verfügung steht, wer baute die Rohrleitungen und wer repariert sie, wenn sie kaputtgegangen sind? Wer kümmert sich um die Elektrizität, mit der gekocht, gewaschen, beleuchtet und das Warmwasser aufbereitet wird, wer baute unter Lebensgefahr die Staudämme, die Hochspannungsmasten, wer spannte die Leitungen und woher kamen das Eisen, der Stahl, der Beton und alle anderen Materialien, die es hierfür brauchte? Wer bäckt frühmorgens das Brot, das zum Frühstück auf dem Tisch stehen wird, und wer hat die Butter hergestellt, wer hat die Himbeeren geerntet und wer hat sie später zur Konfitüre weiterverarbeitet? Wer hat tief in der Nacht die Skipiste präpariert, auf der am nächsten Tag die Familien aus England zu Tale sausen werden, und wer hat die Skilifte, die Gondelbahnen, die Bergrestaurants und die Pistenfahrzeuge gebaut? Eigentlich müsste auf jedem Gegenstand des täglichen Gebrauchs die gesamte Geschichte seiner Herstellung aufgezeichnet sein, um uns stets ins Bewusstsein zu rufen, dass jeder Konsum und jeder Profit am einen Ende der Kette nur möglich ist dank der Arbeit unzähliger Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch der Kapitalismus hat alle diese Fäden zerrissen, indem Arbeit, Produktion, Konsum und Profit über die ganze Welt hinweg so weit voneinander getrennt wurden, dass man keinem Produkt mehr ansieht, wie viel Anstrengung, wie viel Schweiss, wie viele Schmerzen und wie viel Leiden notwendig waren, um es herzustellen. Nun war dies alles freilich auch schon vor der Coronakrise nicht anders. Anders ist nur, dass der Graben zwischen denen, die vor allem profitieren, und denen, die vor allem leiden, noch viel grösser geworden ist, als er schon war. Doch genau darin könnte auch eine Chance liegen: Dass die Gegensätze so himmelschreiend  und so unübersehbar geworden sind, dass nun eigentlich kein vernünftiger Mensch mehr länger zur Tagesordnung übergehen könnte. Dass uns die Coronapandemie die Augen geöffnet hat für Dinge, die wir früher zu oft übersehen haben. Dass die Welt nach Corona nicht mehr die gleiche sein wird wie zuvor und dass es nicht mehr möglich sein wird, dass es Menschen gibt, die sich für 120’000 Franken pro Woche eine Villa am “besten Ort der Erde” leisten können. Weil der beste Ort auf Erden nicht mehr Verbier, Dubai oder Palm Beach sein wird, sondern jeder Ort der Erde der beste sein wird.