Der Wirbel um Novak Djokovic: Bloss die Folge eines unbegreiflichen, ausser Rand und Band geratenen Nationalismus?

 

Wer die serbische “Krawallpresse” lese, so schreibt der “Tagesanzeiger” vom 8. Januar 2022, wähne sich kurz vor einem “Weltkrieg”. Und dies schlicht und einfach nur deshalb, weil dem serbischen Tennisstar Novak Djokovic aufgrund eines fehlenden Impfausweises die Einreise nach Australien verweigert worden ist. Djokovic als Märtyrer, als Opfer einer Weltverschwörung – sein Vater ging gar so weit, ihn mit Jesus zu vergleichen, der ebenfalls gekreuzigt worden sei. Allerdings, so räumt der “Tagesanzeiger” ein, habe die “nationalistische Aufwallung” wohl auch mit “verletztem Nationalstolz” zu tun und mit der permanent von der Staatsmacht wiederholten “Mär”, der Westen habe in den 1990er-Jahren ein unschuldiges Volk angegriffen. “Solch krude Ansichten”, so der “Tagesanzeiger”, “verunmöglichen eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung”. Mär? Krude Ansichten? So einfach sollte man es sich nicht machen, sonst läuft man Gefahr, der gleichen Zuspitzung, Vereinfachung und Schuldzuweisung zu verfallen, die man so gerne der Gegenseite zum Vorwurf macht. Blenden wir zurück: Ab 1989 nehmen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien immer mehr zu. Dabei geht es auch um Fragen der Ökonomie und des finanziellen Ausgleichs zwischen den verschiedenen Regionen. Die reichen Regionen wie Slowenien und Kroatien kündigen ihre finanzielle Unterstützung der ärmeren Regionen wie Bosnien, Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf, diese wiederum sehen sich dadurch existenziell bedroht. Gleichzeitig mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Teilrepubliken wächst der Nationalismus, das Trennende bekommt gegenüber dem bis anhin Verbindenden immer mehr Gewicht. Bis die schwelenden Konflikte in offene Kriege umschlagen, in denen sich die Streitkräfte der Teilrepubliken und die jugoslawische Volksarmee unter Führung der Serben unversöhnlich gegenüberstehen. Es beginnt 1991 mit dem Slowenienkrieg und geht weiter mit dem Kroatienkrieg 1991-1995 und dem Bosnienkrieg 1992-1995. Wie tief der Graben zwischen den verschiedenen Volksgruppen mittlerweile geworden ist, zeigt sich in der Aussage des späteren kroatischen Staatspräsidenten Tudman, der betont, wie glücklich und stolz er sei, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nach und nach spalten sich die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens ab und bilden eigene, autonome Staaten. Auch der Kosovo strebt die Unabhängigkeit von Serbien bzw. der nach allen Abspaltungen noch übrig gebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien an, hatte Kosovo doch bereits 1989 infolge einer Änderung der serbischen Verfassung seine früheren Autonomierechte verloren und hatte seither die Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die serbische Obermacht kontinuierlich zugenommen. 1992 rufen die Kosovoalbaner unter Ibrahim Rugova die unabhängige “Republik Kosova” aus, Rugova ist zunächst bestrebt, die Autonomie gewaltlos zu erreichen, aber mit der Zeit beginnen immer mehr Kosovaren am Sinn des gewaltlosen Widerstands zu zweifeln und unterstützen die UÇK, die ab 1997 mit bewaffneten Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung tritt. Die gegenseitige Gewalt nimmt laufend zu. Und dies ist der Augenblick, in dem die westliche Militärmacht unter Führung der USA in einer Art und Weise in den Jugoslawienkrieg eingreift, wie sie dies nur gegenüber Serbien getan, niemals aber gegenüber einer anderen Volksgruppe in diesem Konflikt auch nur je erwogen hätte. Wenn sich Serbinnen und Serben heute noch immer als “Opfer der Geschichte” sehen, so sind das weder “krude Ansichten”, noch handelt es sich um eine “Mär”, sondern es ist bitterernste, knallharte, tödliche Realität: Am 24. März 1999 beginnen, notabene ohne völkerrechtliche Grundlage, die Luftanschläge der NATO auf mehrere serbische Provinzen, daran beteiligt sind U-Boote in der Adria, von B-52-Bombern abgefeuerte Marschflugkörper und von verschiedenen Basen gestartete Kampfflugzeuge. Schon in der ersten Kriegsnacht werden mehrere Chemiewerke bombardiert, grosse Mengen giftiger und krebserregender Stoffe treten aus. Ärzte raten schwangeren Frauen zur Abtreibung und für zwei Jahre zur Vermeidung von Schwangerschaften. In den folgenden Wochen werden auch Gebäude des Serbischen Rundfunks angegriffen. Ebenfalls wird der Belgrader Fernsehturm zerstört. Ein weiteres wichtiges Angriffsziel ist die Stromversorgung, eine grössere Anzahl von Umspann- und Wärmekraftwerken werden bombardiert. Zahlreiche Strassen und Brücken, Spitäler und Verwaltungseinrichtungen, rund 300 Schulen und 176 Kulturdenkmäler werden beschädigt oder zerstört. Als der Krieg am 10. Juni 1999 zu Ende ist, meint ein Kommentator des Schweizer Fernsehens in der Tagesschau: “Serbien wurde um 40 Jahre zurückbombardiert.” Und das soll keine Wunden schlagen? Ein so gedemütigtes Volk soll einfach mir nichts dir nichts wieder zur Tagesordnung übergehen? Da soll man nicht anfällig sein für übertriebene Vaterlandsliebe? Wer heute über das serbische Volk und über Novak Djokovic den Kopf schüttelt, müsste mindestens so sehr den Kopf schütteln über diesen beispiellosen Militärschlag im Frühjahr 1999, mit dem kein einziges jener Probleme, mit denen er begründet wurde, tatsächlich gelöst, sondern nur unendlich viele neue geschaffen wurden. Das Mindeste wäre genau das, was der “Tagesanzeiger” fordert, nämlich eine konstruktive “Vergangenheitsbewältigung”. Nur kann man wohl nicht allen Ernstes vom serbischen Volk alleine die Bewältigung einer so traumatischen, bis heute nachwirkenden Demütigung erwarten. Die Vergangenheitsbewältigung müssten vor allem jene betreiben, die einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen haben und nichts Gescheiteres wussten, als in ein lichterloh brennendes Feuer noch zusätzlich Öl zu giessen. Und ja: Auch Medien wie der “Tagesanzeiger” müssten sich vor allem um eine sachliche Aufklärung historischer Zusammenhänge bemühen, statt Feindbilder, die sowieso schon genug stark verbreitet sind, noch zusätzlich anzufeuern…