Soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Voraussetzung für jede funktionierende Demokratie

 

Im Gegensatz zu früheren Zeiten, so wird oft gesagt, leben wir heute in einer “multioptionalen” Gesellschaft. Noch nie hätte man eine so grosse Auswahl an unterschiedlichen Lebensentwürfen zur Verfügung gehabt. Auch philosophische Gespräche am Radio oder Fernsehen, Weiterbildungsveranstaltungen über “Selbstfindung” und “Selbstoptimierung” sowie eine ganze Flut von Ratgebern für die Erkundung des persönlichen “Lebensglücks” kreisen um dieses Thema. Doch was wird sich die alleinerziehende Mutter, die zwischen dem Aufziehen ihres Kindes, ihrer Arbeit als Verkäuferin und dem Erledigen sämtlicher Haushaltsarbeiten rund um die Uhr kaum zum Schnaufen kommt, bei alledem wohl denken? Von “Selbstoptimierung” kann sie wohl nur träumen, ihre “Multioptionalität” besteht bestenfalls darin, ob sie ihrem Kind zu Weihnachten das lange ersehnte Spielzeug kaufen kann oder doch lieber ein wenig mehr Geld zur Verfügung hat für ein gutes Essen. Ja, die “Selbstfindung” und die “Selbstoptimierung” sind Merkmale der “modernen” Gesellschaft, in der wir leben. Aber zugleich sind ihre Segnungen und Wohltaten höchst ungleich und höchst ungerecht verteilt. Sie sind nicht Privilegien heutiger gegenüber vergangener Generationen. Sie sind, wie so vieles andere auch, Privilegien einer wohlbetuchten Oberschicht gegenüber dem Rest der Bevölkerung. “Selbstfindung”, “Selbstoptimierung” und “Multioptionalität” werden einem nicht geschenkt, man muss sie sich leisten können, und dies ist nur jenem Teil der Bevölkerung vergönnt, der weit mehr Geld zur Verfügung hat, als das, was für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse auch tatsächlich notwendig ist. Doch dies geht weit über Fragen von “Selbstfindung” oder “Selbstoptimierung” hinaus. Weite Bereiche gesellschaftlicher Teilhabe sind Herrschaftsgebiete der Reichen, wo die Ärmeren nichts zu suchen haben, von kulturellen Angeboten wie Theater, Musik, Ausstellungen, Literatur über Freizeitaktivitäten wie Skifahren, Tennis, Golf und Ferien im Luxushotel oder auf den Malediven bis hin zu Politik, wo nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten anzutreffen sind, obwohl in einer echten Demokratie doch eigentlich sämtliche Segmente der Bevölkerung angemessen vertreten sein müssten. So ist es wohl nicht übertrieben, von zwei Welten im gleichen Land zu sprechen, die so weit voneinander entfernt und gegenseitig so sehr entfremdet sind, dass die auf der Sonnenseite kaum mehr nachempfinden und verstehen können, wie denen auf der Schattenseite zumute ist. Doch der Zweispalt geht ja noch viel weiter: Die “unteren” Bevölkerungsschichten sind nicht nur ausgegrenzt, abgehängt, stigmatisiert. Gleichzeitig erzielen sie durch ihre harte, entbehrungsreiche, anstrengende und dennoch schlecht bezahlte Arbeit jenen “Überschuss” an Wohlstand, welcher den “höheren” Bevölkerungsschichten jenes privilegierte Leben ermöglicht, welches ihnen selber verwehrt ist – wie die Köche, Putzfrauen, Kellnerinnen und Zimmermädchen auf einem Kreuzfahrtschiff, die durch ihre harte und schlechtbezahlte Arbeit dafür sorgen, dass sich die Gäste an Bord sämtlichen Annehmlichkeiten genüsslich hingeben können. Ich bin fast ganz sicher, dass die meisten sogenannten “Spaltungen” innerhalb der Bevölkerung , die wir auch in der Schweiz in den vergangenen Jahren zunehmend wahrnehmen und die jetzt in der Coronapandemie ihren Höhepunkt erreicht haben, mit dieser “sozialen Apartheid” etwas zu tun haben. Soziale Benachteiligung und Ausgrenzung führen, und das ist völlig verständlich, zu Hass und zu Wut. Die soziale Ungerechtigkeit, die Benachteiligung und Ausgrenzung ganzer Segmente der Bevölkerung, das ist der beste Nährboden für populistische Bewegungen, von den Trumpisten in den USA über die AfD in Deutschland bis zur SVP in der Schweiz. “Die AfD”, so Klaus Hurrelmann, Bildungsforscher an der Hertie School in Berlin, “schneidet unter den jungen Menschen deshalb so gut ab, weil sie als eine Partei wahrgenommen wird, die sich für die Rechte von Benachteiligten einsetzt.” Wer deshalb populistischen Bewegungen, die ihrerseits auf eine gefährliche Spaltung der Gesellschaft hinarbeiten und in der Regel extreme, rassistische und fremdenfeindliche Positionen vertreten, wer also solchen Bewegungen das Wasser abgraben will, kann sich nicht darauf beschränken, diese auf irgendeine Art zu “bekämpfen”. Dauerhaft solchen Bewegungen den Boden entziehen können wir nur, indem wir die soziale Gerechtigkeit stärken. Die soziale Gerechtigkeit ist die eigentliche, unersetzliche, unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wer sich nur noch in seine vier Wände privater Glückseligkeit, “Selbstfindung” und “Selbstoptimierung” zurückzieht, ohne sich um den Rest der Gesellschaft zu kümmern, gefährdet die Demokratie ebenso wie jene, die mit fremdenfeindlichen Parolen auf die Strassen gehen. Absurderweise sind die Entpolitisierung weiter Teile der Gesellschaft und der Rückzug ins private “Lebensglück” heute weiter verbreitet denn je, und dies ausgerechnet in einer Zeit nie dagewesener sozialer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen, wo politisches Engagement auf breitester Basis an allen Ecken und Enden dringender nötig wäre denn ja.