55jährig und schon “altes Eisen”

 

M., 55jährig, ist seit drei Jahren arbeitslos. Ihren früheren Job in einem IT-Unternehmen, in dem die gelernte Verkäuferin als Quereinsteigerin während vieler Jahre erfolgreich tätig gewesen war, hatte sie infolge einer schweren Krankheit und privater Schicksalsschläge verloren. Und nun also ist sie seit drei Jahren wieder auf Jobsuche. Ein hartes Pflaster: In den allermeisten Fällen erhält sie, wenn auf ihr Bewerbungsschreiben überhaupt geantwortet wird, eine Absage ohne jegliche Begründung, wiederum andere Firmen begründen eine Absage damit, M. sei für die betroffene Stelle “überqualifiziert”, und nicht selten wird ihr auch mitgeteilt, man hätte eine andere Bewerberin gefunden, die “besser zum gesuchten Profil” passe. Bei Absage Nr. 157 hat M., die sich mittlerweile immer mehr als “altes Eisen” vorkommt, zu zählen aufgehört und inzwischen fast die letzte Hoffnung verloren, jemals wieder einen Job zu finden. Was für eine Wirtschaft, was für ein Land, das sich den Luxus leisten kann, auf das Potenzial hunderttausender tatkräftiger, motivierter, begabter, ideenreicher Arbeitskräfte ganz einfach zu verzichten! Sollte nicht jedem Menschen, der einer Erwerbsarbeit nachgehen möchte, ganz selbstverständlich die Chance dafür offenstehen? Müsste die Wirtschaft, die, um zu funktionieren, stets auf möglichst viele und kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten angewiesen ist, den Kuchen der Erwerbsarbeit nicht ebenso auf möglichst viele arbeitswillige Menschen möglichst gerecht verteilen? Müsste es nicht, analog zum Recht auf fliessendes Wasser, ausreichende Ernährung oder auf eine Wohnung, auch ein Recht auf Arbeit geben? Sollten die Wirtschaft und die gesamte Arbeitswelt nicht so etwas wie ein Haus sein, in dem Platz ist für alle und in dem jeder Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Begabungen willkommen ist? Wäre es nicht in jeglicher Hinsicht vernünftiger, das gesamthaft vorhandene Arbeitsvolumen möglichst gleichmässig auf alle arbeitsfähigen Menschen aufzuteilen, statt die einen durch Höchstleistungen und Überzeiten permanent zu überfordern und die anderen infolge zerschlagener Zukunftsaussichten zu demütigen und in psychisches und soziales Elend versinken zu lassen? Müsste man da nicht schon von einer Verletzung elementarer Menschenrechte sprechen, wenn einem Menschen auch noch der letzte Rest von Selbstachtung entrissen wird, indem man ihm über Jahre, Schlag um Schlag, Ohrfeige um Ohrfeige, zu verstehen gibt, dass man ihn eigentlich gar nicht braucht und dass er in dieser Welt, die ohne ihn auch auszukommen vermag, im Grunde genommen überflüssig ist? Noch herrscht das Primat der betriebswirtschaftlichen Rentabilität: mit möglichst wenig Personal und damit mit möglichst geringen Lohnkosten das Maximum an Profit herauszuholen. Noch dienen die Menschen der Wirtschaft und nicht die Wirtschaft den Menschen. Doch dies geht nur solange, als Wirtschaft und Gesellschaft fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Kosten, welche die einzelne Firma durch Personalabbau und Auspressung der verbliebenen Arbeitskräfte einspart, lösen sich nicht in Luft auf, sondern fallen anderswo an: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Invalidenversicherung, bei der Sozialhilfe, im Gesundheitswesen, bei Beratungsstellen. Dies wird sich erst dann ändern, wenn das heute noch vorherrschende Primat der Privatwirtschaft gegenüber Gesellschaft und Politik auf den Kopf gestellt wird und die Wirtschaft nicht mehr vor allem dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung verpflichtet ist, sondern vor allem dem Wohl für das Ganze, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht, was ja unauflöslich miteinander verbunden ist. Dann werden nicht mehr die Menschen um einen Arbeitsplatz buhlen und sich dabei gegenseitig bis aufs Messer konkurrenzieren, sondern die Firmen werden um die Arbeitskräfte buhlen. Und dann wird man auch logischerweise nicht mehr von “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern” sprechen bzw. man wird diese Begriffe umdrehen, denn Arbeit – durch das Anbieten von Fähigkeiten und Begabungen – stellen ja nicht die so genannten “Arbeitgeber” zur Verfügung, sondern die so genannten “Arbeitnehmer”. Die wievielte Absage, die wievielte Ohrfeige, den wievielten Faustschlag hat M. in der Zwischenzeit wohl hinnehmen müssen? Wie viel Demütigung, wie viel Missachtung wunderbarer Fähigkeiten und Begabungen, die in Menschen unausgelebt schlummern, braucht es wohl noch, bis eine neue Denkweise, eine neue Sicht auf das Wohl des Ganzen Wirklichkeit werden kann?