Warum wir dem Staat in diesen schweren Zeiten umso mehr Sorge tragen sollten

 

E. ist davon überzeugt, dass der Staat auch nach dem Ende der Coronapandemie die während dieser Zeit etablierten Macht- und Kontrollinstrumente nicht so schnell wieder aus der Hand geben und die Bürgerinnen und Bürger weiterhin bevormunden und ihrer persönlichen Freiheiten berauben werde. Dieser Gefährdung der Demokratie gälte es in aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ein paar Tage später, Bürgerversammlung in B.: Das vom Stadtrat vorgelegte Budget fürs kommende Jahr wird in Bausch und Bogen verworfen. Der Stadtpräsident sieht sich bei seinen Ausführungen mit höhnischem Gelächter aus der Bürgerschaft konfrontiert. Ein Versammlungsteilnehmer meint im Anschluss an die Veranstaltung, es wäre bei alledem wohl gar nicht so sehr um das Budget gegangen, als vielmehr darum, den Stadtbehörden endlich mal eins “auszuwischen”. Und wieder ein paar Tage später geht die Neinkampagne gegen das am 13. Februar 2022 zur Abstimmung gelangende “Medienpaket”, das eine Erhöhung der staatlichen Beiträge für Print- und Onlinemedien vorsieht, ihrem Höhepunkt entgegen. Das Hauptargument der Gegnerschaft des Medienpakets: Durch die staatliche Unterstützung gerieten die Medien in die Abhängigkeit des Staates, der auf diese Weise seine “Macht” ausbauen und die Meinungsvielfalt und Demokratie bedrohen würde, es ist auch warnend von “Staatsmedien” die Rede. Nun, was haben die Ängste von E., die Bürgerversammlung in B. und die Neinkampagne gegen das Mediengesetz miteinander zu tun? Sehr viel: Durchwegs wird der Staat als etwas Gefährliches, Bedrohliches, Übermächtiges oder sogar Demokratiefeindliches gesehen, das es zu bekämpfen und in seine Schranken zu weisen gälte, als wäre dieser Staat ein Monster, das, wenn man es nicht rechtzeitig bändigt, mit der Zeit alles auffressen würde. Wer so argumentiert, lässt gänzlich ausser Acht, dass dieser vielgeschmähte Staat, dieses “Monster”, doch – zumindest hierzulande und ebenso in allen anderen echten Demokratien – doch nichts anderes ist als die Gesamtheit seiner Bürgerinnen und Bürger, nicht dazu da, diese zu bevormunden und ihre persönlichen Freiheiten einzuschränken, sondern, im Gegenteil: soziale Sicherheit zu gewährleisten, lebenswichtige Infrastrukturen bereitzustellen, Meinungsfreiheit und Mitspracherecht zu garantieren. In einer Zeit zunehmender “Staatsfeindlichkeit”, die ihren bisherigen Höhepunkt im US-amerikanischen “Trumpismus” und dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 gefunden hat, ist der Staat schon längst nicht mehr das Bedrohliche, sondern viel mehr das Bedrohte, dem wir, statt es an allen Fronten zu bekämpfen, viel mehr grösste Sorge tragen müssen, um die Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vielmehr müsste der Blick geschärft werden für das, was uns tatsächlich bedroht: die globalen Wirtschaftsmächte mit ihrem unersättlichen Drang, alles dem Zwecke des Profits und der Gewinnmaximierung zu unterwerfen, ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das auf einer permanenten Umverteilung von der Arbeit zum Kapital beruht und die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, der ungebrochene Wachstumswahn in einer Welt begrenzter Ressourcen und das gefährliche Spiel mit unserer Zukunft und dem Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten. Wenn uns etwas bedroht, dann nicht staatliche Strukturen, Gesetze und Behörden, sondern ein ausser Rand und Band geratenes Wirtschaftssystem, das mit persönlicher Freiheit, Sicherheit und Demokratie auch nicht das Geringste zu tun hat. “Abwesenheit des Staates”, sagte der frühere deutsche SPD-Politiker Erhard Eppler, “macht die Menschen nicht frei, sondern zum Freiwild der Reichen und Mächtigen.”