Jeder sei seines Glückes Schmied – eine der gröberen kapitalistischen Lügen

 

Leistung mache sich stets früher oder später bezahlt, meinte F. Wer viel leiste, werde dafür mit beruflichem und gesellschaftlichem Erfolg belohnt. Ganz so, wie es schon das alte Sprichwort sage, wonach jeder seines Glückes Schmied sei. Dies ist wohl eine der gröberen kapitalistischen Lügen…

Das Zimmermädchen, das im Zehnminutentakt Zimmer um Zimmer des Hotels reinigen und in Ordnung bringen muss, der Bauarbeiter, der im heissesten Sommer und im kältesten Winter schwerste körperliche Arbeit verrichtet, bis ihm buchstäblich der Rücken zerbricht, die Krankenpflegerin, die unter permanentem Zeitdruck von Patient zu Patientin eilt und sich dabei nicht den allerkleinsten Fehler erlauben darf, der Arbeiter in der Fleischfabrik, der pausenlos die geschlachteten Tiere zerlegt, bis ihm fast die Arme abfallen, und die alleinerziehende Mutter, die zwischen der Kinderbetreuung, ihren beiden Teilzeitjobs und den Haushaltsarbeiten kaum zum Schnaufen kommt – mehr als sie alle und noch viele, viele mehr kann man nun wirklich nicht mehr leisten. 

Und dennoch wird keine und keiner von ihnen oder allerhöchstens ein paar ganz wenige jenen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg schaffen, von dem das Sprichwort vom Schmied und seinem Glück faselt. Und dies nicht etwa, weil die Betroffenen zu “faul” wären, nein, ganz im Gegenteil: Sie sind arbeitsamer und fleissiger, selbstloser und beharrlicher als so manche und so mancher, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Machtpyramide in ihrem Glück sonnen und sich eines um ein Mehrfaches höheren Lohns erfreuen. Dass die meisten Tieflohnarbeiterinnen und Tieflohnarbeiter trotz grösster Anstrengung den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg nicht schaffen, hat nicht mit fehlender Leistungsbereitschaft zu tun, sondern einzig und allein damit, dass sie schlechtere Startbedingungen hatten: Entweder verfügten ihre Eltern nicht über das nötige Geld, um ihnen eine gewünschte Ausbildung zu ermöglichen, oder sie sahen sich in der Schule schon von Anfang an gegenüber Kindern aus sogenannt “höhergebildeten” Akademikerfamilien benachteiligt oder sie stammen aus einem anderen Land und verfügen daher nicht über die notwendigen Bildungspapiere und nur über spärliche Sprachkenntnisse. 

Die Lüge, wonach jeder seines Glückes Schmied sei, dient einzig und allein dazu, all jene, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Arbeitswelt tummeln, von ihrem schlechten Gewissen zu befreien, gegenüber anderen privilegiert zu sein, können sie sich doch jederzeit darauf berufen, dass all jene, denen es schlechter geht, an ihrem Schicksal selber Schuld seien: Sie hätten ja bloss ein bisschen härter arbeiten müssen und dann wären sie ebenfalls schon längstens auf der Sonnenseite. 

Diese Lüge trägt aber gleichzeitig ebenso dazu bei, dass auch die Benachteiligten und Unterprivilegierten am unteren Rand der Arbeitswelt das Bild vom Schmied und seinem Glück verinnerlicht haben: Dass es ihnen so mies geht, daran seien sie selber Schuld, sie hätten halt in der Schule besser aufpassen, sie hätten halt ein bisschen ehrgeiziger und fleissiger sein müssen. So wird die herrschende soziale Ungerechtigkeit zwischen denen auf der Sonnenseite und denen auf der Schattenseite sozusagen privatisiert, individualisiert, einfach gesagt: Wem es schlecht geht, ist selber Schuld. Und so kommt ganz bestimmt niemand auf die Idee, das ganze System, die ganze Brutalität einer Arbeitswelt, in der ausgerechnet jene Berufstätigen, welche zu schlechtesten Bedingungen die härteste Arbeit mit dem geringsten Lohn bewältigen, in Frage zu stellen und sich auf politischer Ebene für eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung einzusetzen, in der all jene Lügen und falschen Versprechungen, mit denen sich das kapitalistische System heute noch über Wasser hält, endgültig der Vergangenheit angehören würden.