Asha Rada, der siebte Sinn und der Beginn eines neuen Zeitalters…

 

Als ich etwa zehn Jahre alt war, las ich in einer Illustrierten, die meine Eltern abonniert hatten, von einem achtjährigen Mädchen, das in einem indischen Zirkus als Akrobatin arbeiten musste. Jedes Mal, wenn sie ihre Darbietung verpatzte, wurde sie nach der Vorstellung von ihrem Vater ausgepeitscht. Mich wühlte diese Nachricht dermassen auf und mein Mitleid mit diesem Mädchen war so gross, dass ich in der Folge buchstäblich des Abends nicht mehr einschlafen konnte. Es war mir, als fühlte ich ihre Schmerzen, als hörte ich ihre Schreie, als verspürte ich ihre Angst  jeden Abend vor dem nächsten Auftritt. Ich weiss sogar heute immer noch, wie das Mädchen hiess: Asha Rada. Weil ich nämlich ihren Namen jeden Abend unzählige Male wiederholte, in der Hoffnung ihr damit zu helfen, so lange, bis mich der Schlaf übermannte. Lieber wollte ich sterben, als zu leben und zu wissen, dass dieses Mädchen im fernen Indien jeden Tag mit der Angst vor einer so grausamen Bestrafung durch ihren eigenen Vater leben musste. Eines Tages schrieb ich sogar einen Brief an die Redaktion der Illustrierten mit der Frage, ob es betreffend Asha Rada neue Informationen gäbe – ohne dass ich freilich eine Antwort bekommen hätte. Heute, über 60 Jahre später, frage ich mich: Wie kann ich denn jetzt, in dieser Zeit, ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass jeden Tag rund zehntausend Kinder weltweit mit viel grösseren Schmerzen, als Asha Rada sie jemals erleiden musste, vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben müssen, nur weil sie nicht genug zu essen haben? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass Millionen von Menschen weltweit auf der Flucht sind, krank und frierend, mit keiner anderen Habseligkeit als den paar Kleidern, die sie tragen? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass sämtliche Prognosen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darauf hindeuten, dass meine Enkelkinder , wenn sie erwachsen sein werden, in einer Welt leben werden, in der unerträgliche Hitze, verheerende Unwetter, die Überflutung immer grösserer Wohngebiete, Wasser- und Nahrungsmangel grösser und grösser werdende Ausmasse annehmen werden? Was uns Menschen fehlt, ist so etwas wie ein siebter Sinn. Wir sehen all das, was sich täglich vor unseren Augen abspielt. Wir hören die Stimmen unserer Mitmenschen, Motorgeräusche, das Singen der Vögel. Wir riechen den Duft von Blumen und das Parfüm auf unserer Haut. Wir nehmen den Geschmack von Früchten, Gewürzen und Kaffee auf unserer Zunge wahr. Wir spüren mit unserem Gesicht und mit unseren Händen Regen, Hitze und Kälte. Aber wir spüren nicht das bittere Elend , dem weltweit Milliarden von Menschen schutzlos ausgeliefert sind. Ja, wir spüren nicht einmal das Elend, von dem Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betroffen sind. Wir können in einer Wohnung leben und es uns gut gehen lassen, ohne wahrzunehmen, dass im gleichen Haus, getrennt durch eine dicke Mauer, nur Zentimeter von uns entfernt, ein Kind schon zum dritten oder vierten Mal hintereinander hungrig zu Bett gegangen ist, weil sein Vater unlängst seinen Job verloren hat und das vorhandene Held hinten und vorne nicht für ein einigermassen anständiges Leben ausreicht. Ja, der siebte Sinn. Er würde uns durch die scheinbar undurchlässigen Mauern hindurchschauen und das Elend auf der anderen Seite spüren lassen. Er würde uns die Augen dafür öffnen, dass Armut und Reichtum nur die beiden Kehrseiten der gleichen Münze sind und jedes überflüssige Geldstück in der Tasche des Reichen das Geldstück ist, welches in der Tasche des Armen fehlt. Er würde uns die Schmerzen jener zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger sterben, spüren lassen und uns den Schlaf so lange rauben, bis alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen hätten. Er würde uns mit jeder Waffe, die hergestellt wird, und mit jeder Armee, mit dem ein Land ein anderes bedroht, einen so schmerzenden Stich mitten durch unser Herz jagen, dass nur ein kompromissloser weltweiter Frieden uns wieder zur Ruhe bringen könnte. Er würde bei jedem Kind, das geboren wird, in uns ein Feuer entfachen, alles, aber auch alles Erdenkliche zu tun, damit die Erde auch in 50 oder 100 Jahren noch ein Ort sein wird, wo alle Menschen ein gutes Leben haben können. In der Tat: Die entscheidende Frage ist, ob wir uns primär als Einzelwesen definieren oder als Teile eines Gemeinwesens, ob sich der Egoismus dem Gemeinwohl unterordnen soll oder umgekehrt. Es könnte die entscheidende Frage sein, ob es auf diesem Planeten ein Weiterleben der Menschheit geben kann oder nicht. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.” Dass ich als zehnjähriger Junge wegen Asha Rada nicht schlafen konnte, zeigt, dass der “siebte” Sinn offensichtlich ein geradezu heiliges Geschenk ist, das wir alle schon mit unserer Geburt mitbekommen haben. Leider geht dieses Geschenk bei den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens verloren. Doch eigentlich stimmt das nicht: Es ist nicht verloren, sondern nur überdeckt, überwachsen, verdrängt. Es wieder ans Licht zu bringen, all die vergessenen Asha Radas in unserer Lebensgeschichte und all die Schmerzen, die damit verbunden waren, wieder aufzuspüren und lebendig werden zu lassen: Es wäre der Anfang einer neuen Zeit…