Die Digitalisierung – eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist?

 

“Wir stecken in einem digitalen Strukturwandel”, so kommentiert SVP-Nationalrat Gregor Rutz im “Tages-Anzeiger” vom 14. Februar 2022 das Abstimmungsergebnis zum schweizerischen Mediengesetz, “und diesen digitalen Strukturwandel können wir nicht einfach aufhalten.” Eine Aussage, die von unterschiedlichster Seite immer wieder zu hören ist, wenn von der “Digitalisierung” und dem “digitalen Fortschritt” die Rede ist. Dementsprechend sind dann auch alle finanziellen Mittel Recht, wenn es um die Förderung der Digitalisierung geht, insbesondere auch weil die Schweiz in diesem Bereich gegenüber vielen anderen Ländern im Rückstand sei. Wohlgemerkt: Auch ich möchte nicht auf meinen Computer verzichten, ebenso wenig wie auf mein Smartphone. Auch ich schätze die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Internets, schreibe häufig E-Mails und recherchiere immer wieder in der grossen weiten Welt des Wissens. Und doch stosse ich mich an der Aussage, der digitale Strukturwandel sei “nicht einfach aufzuhalten”. Zahnbürsten, Staubsauger und Kühlschränke, die nur noch mithilfe einer App funktionieren, Hotelangestellte in der Gestalt von Robotern, automatische Gesichtserkennung, Schrittzähler und Gesundheitsüberwachungssysteme, selbstfahrende Autos, ferngesteuerte chirurgische Eingriffe, Onlineshopping und das damit verbundene Ladensterben, Hackerangriffe, die landesweite Kommunikationssysteme lahmlegen, lebensgefährliche technische Pannen in Notrufzentralen – die digitale Büchse der Pandora ist schon weit, weit geöffnet und man wagt sich kaum vorzustellen, was diese Entwicklung, welche in wenigen Jahrzehnten die Welt auf den Kopf gestellt hat, in den folgenden zehn oder zwanzig Jahren noch alles mit sich bringen mag. Die Aussage, dies alles sei “nicht aufzuhalten”, ist fatal und erinnert mich an mittelalterliche Glaubensbekenntnisse. Ja, die Digitalisierung ist so etwas wie eine neue Religion. Fährt man an einem Bürohochhaus beim Zürcher Hauptbahnhof vorbei und sieht dort übereinander und untereinander geschachtelt hunderte Köpfe, die alle auf einen Bildschirm starren, oder befindet man sich in einem Zugsabteil, wo bald jeder, der nicht auf sein Handy fixiert ist, schon als Exot erscheint – dann ist es, als wäre dies alles eine endlose Suche nach dem Glück, irgendwo stets am anderen Ende der digitalen Fäden, die alles auf unsichtbare Weise über Satelliten fernab der Erdoberfläche miteinander verbinden. Noch einmal: Ich wehre mich nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung. Nur gegen diesen Fatalismus, dass alles so komme, wie es kommen müsse, ganz unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht. Warum machen wir uns so klein? Warum sind wir, die alles und alle um uns herum bei jeder Gelegenheit kritisieren, ausgerechnet gegenüber der Digitalisierung so unkritisch? Weshalb gibt es so wenig Widerstand gegen den Glaubenssatz, wonach alles, was technisch möglich sei, früher oder später auch verwirklicht werde, ganz unabhängig vom Nutzen, den es den Menschen tatsächlich bringt? Weshalb spricht niemand davon, dass die Digitalisierung einer der grössten Stromfresser ist und damit eine wesentliche Mitursache des Klimawandels? Zu einer einseitig auf Digitalisierung ausgerichteten technischen Entwicklung braucht es dringend so etwas wie einen gesellschaftspolitischen Gegenpol. Die Digitalisierung darf nicht das Alleinseligmachende sein, dem sich alles andere unterzuordnen hat, sondern nur eines von unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung von Arbeit und Alltag. Stellt man die Digitalisierung zu einseitig in den Vordergrund, dann besteht die Gefahr, dass andere Entwicklungsbereiche  zurückgedrängt, an ihrer Entfaltung gehindert oder schon gar nicht mehr wahrgenommen werden. Vier Beispiele: Als ich kürzlich zum Geburtstag meiner Tochter einen Schirm kaufen wollte, suchte ich ein kleines Fachgeschäft auf. Die Verkäuferin zeigte mir stolz ihre Auswahl, zudem informierte sie mich fachkundig über den Herkunftsort und die Produktionsbedingungen der verschiedenen Schirme. Ihre etwa zehnjährige Tochter war mit dabei und half beim Einpacken des von mir ausgewählten Schirms, was ihr sichtlich Spass machte. Menschliche Begegnung, fröhliche Gesichter, ein herzliches Lachen – ein Einkaufserlebnis, das mir gänzlich entgangen wäre, hätte ich den Schirm im Internet gekauft. Zweites Beispiel: Auch in den Schulen, wen wunderts, hat die Digitalisierung einen enormen Stellenwert. Millionenbeträge werden dafür lockergemacht. Dabei wären für eine ganzheitliche Entwicklung der Kinder andere Lernbereiche wie zum Beispiel das Musische, das Soziale, manuelles, handwerkliches und körperliches Tun sowie die Hauswirtschaft mindestens so wichtig. Doch statt diese Bereiche ebenso stark zu fördern, werden nicht selten ausgerechnet in diesen Fächern sogar Schulstunden gestrichen und “eingespart”. Drittes Beispiel: Es gibt immer mehr Menschen, die keine Theateranlässe, keine Konzerte und keine Kinoveranstaltungen mehr besuchen, weil sie das alles ja auch, und erst noch billiger, im Internet haben können. Damit entgeht ihnen aber das einzigartige Liveerlebnis, die prickelnde Atmosphäre in einem Kino- oder Theatersaal, die Begegnung und der Austausch mit anderen Menschen. Würde man nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel, die für Digitalisierungsprojekte aufgeworfen werden, zur Förderung der Kulturszene verwenden sowie zur Verbilligung von Tickets für Menschen, die sich einen Theater- oder Konzertbesuch gar nicht leisten können, wäre dies ein äusserst wertvoller Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen, zur Zufriedenheit und zur Gesundheit der Menschen. Viertes Beispiel: Als Alternative zur Meinungsäusserung in den “sozialen” Medien, gibt es, glücklicherweise, immer noch die Lokalzeitung, ein beliebtes und hervorragendes Gefäss für Leserbriefe, überaus gut geeignet zur Meinungsbildung und zum gegenseitigen Austausch von Ideen, bewegt man sich als Verfasserin oder Verfasser eines Leserbriefs doch in einem Umfeld, wo sich viele Menschen gegenseitig kennen und daher auch der zwischenmenschliche Respekt ungleich viel grösser ist als in der Anonymität der “sozialen” Medien. Vier Beispiele, stellvertretend für unzählige andere, die zeigen, dass die analoge Welt genau so ihre Vorteile und Stärken hat wie die digitale. Wir können, um auf die anfängliche zitierte Aussage von Gregor Rutz zurückzukommen, die Digitalisierung sehr wohl aufhalten. Nicht indem wir etwas verbieten, sondern indem wir der analogen Welt, in der wir zum grössten Teil glücklicherweise immer noch leben, den gleichen Stellenwert, das gleiche Gewicht, gleich viel Energie und Geld verleihen wie der digitalen Welt. Nur ein Gleichgewicht zwischen den beiden Welten kann uns davor bewahren, dem einen oder anderen Extrem zu verfallen. Die Digitalisierung darf nicht zur Religion werden. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eines von vielen unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung der Zukunft.