Ukraine: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin…

 

Wieder rollen die Panzer. Wieder marschieren die Soldaten. Wieder dröhnen Flugzeuge mit tödlicher Fracht durch den Himmel. Wieder heulen die Sirenen. Wieder suchen die Menschen in Bunkern und U-Bahn-Stationen Schutz. Wieder ist Krieg. Das Verrückteste, das Absurdeste, das Widersinnigste, was man sich nur vorstellen kann. Denn ich bin sicher: 99 Prozent aller Menschen, ob in Russland oder der Ukraine, ob in Schweden oder Indien, ob in Chile oder Neuseeland, wollen nur eines: in Frieden leben, genug zu essen, warme Kleider und ein Dach über dem Kopf haben, über ausreichende medizinische Versorgung, Bildung und eine fair bezahlte Arbeitsstelle verfügen. Krieg ist nichts, was mit den Grundbedürfnissen der Menschen zu tun hat. Nichts, was in der “Natur” des Menschen liegt – obwohl dies immer und immer wieder behauptet wird. Nein, Krieg muss herbeigeredet, inszeniert, gemacht, erzwungen werden – gegen den Willen der Menschen. Wenn gestern Morgen der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen hat, dann ist es nicht das russische Volk, das diesen Krieg gewollt hat. Es ist vielmehr die staatliche Propaganda und das Zerrbild einer angeblich “faschistischen” und russlandfeindlichen ukrainischen Regierung, das so lange, gezielt und systematisch über die staatlichen Medien Russlands verbreitet wurde, bis es schliesslich auch die Menschen im fernen Sibirien geglaubt haben. Kriege sind nur möglich, wenn Feindbilder aufgebaut werden, Angst geschürt wird und der angekündigte Krieg als gute, ehrenwerte oder notwendige Angelegenheit verkauft werden kann. Dass sich die jeweiligen Kriegstreiber dabei auch gerne der Lüge bedienen, hat uns das Beispiel des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Kriegs gegen den Irak – mit über einer halben Million ziviler Opfer! – nur allzu deutlich gezeigt: Das amerikanische Volk hätte diesen Krieg nicht gewollt. So musste mit einer besonders krassen Lüge nachgeholfen werden: Wider besseres Wisse behauptete die US-Regierung, der Irak sei im Besitz von international geächteten Massenvernichtungswaffen. So waren die drei Voraussetzungen, um einen Krieg entfesseln zu können, erfüllt: erstens das Feindbild eines “bösen” Staates, zweitens die Angst vor einer möglichen Bedrohung durch eben diese angeblichen “Massenvernichtungswaffen” und drittens das ehrenwerte Motiv, im Dienste des Friedens sowohl die Bereitstellung wie auch die mögliche Weiterentwicklung dieser angeblichen “Massenvernichtungswaffen” zu unterbinden. Ist es heute ein undurchsichtiger, allesbeherrschender, weitverzweigter Machtzirkel rund um Wladimir Putin, so war es 2003 in den USA ein ebenso undurchsichtiger politisch-industriell-militärischer Machtzirkel rund um den Präsidenten George W. Bush. Es wäre ein Leichtes, Dutzende weiterer Beispiele aufzuzählen. Ihnen allen ist gemeinsam: Kriege sind nicht Kriege zwischen Völkern. Kriege sind Kriege der Reichen und Mächtigen gegen die ganz “gewöhnlichen” Männer, Frauen und Kinder ihrer Völker. Kriege sind die extremste und zerstörerischste Form von Klassengesellschaften. Das “Böse”, das sie antreibt und überhaupt erst möglich macht, kommt von “oben”, von den Herrschenden, nicht von “unten”, von den Menschen, die frühmorgens aufstehen, um auf den Feldern, in den Fabriken und Krankenhäusern zu arbeiten, und am Abend müde und erschöpft zu Bett gehen. Aber es ist sogar noch viel schlimmer: Nicht nur, dass die Reichen und Mächtigen die Kriege inszenieren, nein, von ihren zerstörerischen Folgen sind sie selber zugleich am wenigsten betroffen. George W. Bush befand sich keinen Moment lang in Lebensgefahr, während der von ihm inszenierte Krieg über einer halben Million Menschen im fernen Irak das Leben kostete. Auch Wladimir Putin sehen wir in jeder Fernsehübertragung stets in prunkvollen Sitzungszimmern und Konferenzsälen, während seine Soldaten, die jetzt in der Ukraine im Einsatz stehen, neben ihrem Panzer bei Minustemperaturen in knietiefem Morast nächtigen. Und vollends absurd wird das Ganze, wenn wir uns die Kosten vor Augen führen, welche die Aufrüstungen und Kriegsführungen verschlingen und die gerade im Falle des Kriegs gegen die Ukraine besonders zynisch sind, geht es den Menschen in Russland doch von Jahr zu Jahr schlechter und wissen eine immer grössere Zahl von ihnen kaum mehr, wie sie ihre Auslagen für Lebensmittel, Kleidung und Heizkosten bestreiten sollen. “Jede Kanone”, sagte US-General Dwight D. Eisenhower, “die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.” Doch warum machen wir das alles immer und immer wieder mit? Warum sind jetzt Zehntausende von russischen Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine, obwohl sie doch alle viel lieber friedlich zuhause wären, ihrer täglichen Arbeit nachgingen, mit ihren Kindern spielen und Partys feiern würden? Weshalb lassen sich 99 Prozent der Menschen von einem einzigen Prozent dermassen an der Nase herumführen? “Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin” – diese Botschaft des amerikanischen Schriftstellers Carl Sandburg ist heute aktueller denn je. Stellen wir uns vor: Putin hätte seinen Einsatzbefehl erteilt und alle russischen Soldatinnen und Soldaten wären einfach in ihren Panzern, Flugzeugen und Lastwagen sitzen geblieben. So wie der 24. Februar 2022 in die Geschichte einzugehen droht als der Tag, an dem in Europa wieder einmal ein grosser Krieg begann, so wäre dieser gleiche Tag in die Geschichte eingegangen als der Tag, an dem der Aufruf Carl Sandburgs endlich in die Tat umgesetzt worden wäre. Als der Irakkrieg 2003 drohte, gab es in ganz Europa riesige Friedensdemonstrationen. Jahrelang erfreuten sich auch europaweit die Friedensmärsche zu Ostern grossen Zulaufs. Und heute? Obwohl der Einsatz gegen Krieg und für Frieden und Abrüstung dringender nötig wäre denn je, ist alles unheimlich still. Aber vielleicht, das ist die Hoffnung, wird der Krieg, der in diesen Tagen begonnen hat, zum Weckruf an die so riesige überragende Mehrheit der Menschheit, sich nicht mehr länger von einer kleinen, machtgierigen und herrschsüchtigen Minderheit vor den Karren spannen zu lassen. Denn es ist eben schon so, wie US-Präsident John F. Kennedy sagte: “Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.”