Sanktionen wirken wie Naturkatastrophen, sie treffen vor allem die Benachteiligten

 

Werden die vom Westen gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen schon bald ihre Wirkung zeigen und in naher Zukunft zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führen? Vermutlich ist viel eher das Gegenteil zu erwarten. “Autoritäre Staatschefs, deren Länder mit Sanktionen belegt werden”, so die US-Wissenschaftlerin Amanda Licht im deutschen “Handelsblatt” vom 21. September 2011, “herrschen eher länger als kürzer – die Sanktionen wirken also oft sogar stabilisierend.” Auch der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sieht – gemäss einem Bericht des deutschen “Redaktionsnetzwerks” vom 7. März 2022 – in den Sanktionen kein geeignetes Mittel, um den Krieg in der Ukraine zu beenden: “Putin wird seine Ziele mit jedem Mittel erreichen und wird sich durch keine Sanktion der Welt davon abbringen lassen.” Gleicher Meinung ist der “Tagesanzeiger” vom 12. März 2022: “Wie die historischen Erfahrungen mit den Sanktionen zeigen, verstärken sie in der Regel die Repression im betroffenen Land, zu einem Nachgeben oder einem Regimewechsel kommt es selten.” Dass dies so ist, lässt sich einfach erklären: Druck erzeugt stets Gegendruck, Gewalt erzeugt Gegengewalt, Aufrüstung auf der einen Seite erzeugt Gegenaufrüstung auf der anderen – weshalb sollen Wirtschaftskriege anderen Mustern folgen als die Kriege auf dem Schlachtfeld? Ein weiterer wichtiger Grund für die Zwecklosigkeit von Wirtschaftssanktionen liegt darin, dass diese nie die Reichen und Mächtigen treffen, sondern stets nur die Armen und Benachteiligten. “Sanktionen”, so der “Tagesanzeiger” vom 22. Februar 2022, “wirken ähnlich wie gewaltsame Konflikte oder Naturkatastrophen. Sie treffen vor allem die Benachteiligten.” Das müssten wir eigentlich spätestens seit den von den USA gegen das irakische Regime zwischen 1991 und 1995 verhängten Wirtschaftssanktionen schon längstens wissen: Diesen Wirtschaftssanktionen fielen infolge fehlender Nahrung und medizinischer Versorgung eine halbe Million Kinder zum Opfer, mehr als der Atombombenabwurf von Hiroshima gefordert hatte. Und dies, während der irakische Machthaber Saddam Hussein und seine Entourage gefahrlos überlebten und mit allen Gütern und Luxusartikeln bestens versorgt waren. Und genau gleich ist es auch heute bei den gegen Russland ausgesprochenen Sanktionen: Reiche Russinnen und Russen – so berichtet “20minuten” am 11. März 2022 – versuchen, einen Teil ihres Reichtums von Europa nach Dubai zu verlagern, um ihr Vermögen vor der Verschärfung der westlichen Sanktionen zu schützen, während gleichzeitig die Menschen in Moskau und anderen russischen Städten im Supermarkt vor beinahe gänzlich leergefegten Regalen stehen. Davon auszugehen, dies würde die Bevölkerung zur Wut gegen Putin anstacheln und zu einem Regierungsumsturz führen, ist naiv. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil, nämlich, dass sich die Wut der Bevölkerung gegen die westlichen Länder wenden wird, welche die Sanktionen verhängt haben. Fatal ist, dass sich auch die Schweiz den Sanktionen der EU gegen Russland angeschlossen hat, ausgerechnet die Schweiz, die doch stets so vehement auf ihre Eigenständigkeit und Neutralität pocht. Diese “Neutralität” erweist sich nun endgültig als reine Farce, wäre es doch der Schweiz, im Gegensatz zu den nun ergriffenen Sanktionen gegen Russland, nicht im Traum in den Sinn gekommen, im Jahre 2003 Sanktionen gegen die USA zu ergreifen, welche gegen den Irak ohne Grund und mithilfe von Lügen und falschen Behauptungen einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen hatte, der in der Folge über einer halben Million Zivilpersonen das Leben kosten sollte. Mit den Sanktionen gegen Russland hat die Schweiz die einmalige Chance verpasst, gegenüber der Ukraine und Russland als neutrale Vermittlerin aufzutreten. Nun muss die Schweiz mit ansehen, wie mit der Türkei und Israel zwei Länder in diese Bresche springen, welche bezüglich Menschenrechte alles andere als eine lupenreine Weste tragen. Rolf Weder, Professor für Aussenwirtschaft und Europäische Integration an der Universität Basel, nahm in der Sendung “10vor10” des Schweizer Fernsehens am 11. März 2022 zu den Sanktionen gegen Russland wie folgt Stellung: “Russland wird damit um Jahrzehnte zurückgeworfen.” Wieder einmal, wie so oft: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch kann dies allen Ernstes unser Ziel sein? Ist das ein Russland, das wir uns wünschen? Geht von einem Russland, das “um Jahrzehnte zurückgeworfen” wird, nicht eine viel grössere Kriegsgefahr aus als von einem Russland, das dem Westen auf Augenhöhe begegnen kann? Putin hat den Krieg angefangen, zweifellos. Aber wir führen ihn weiter. Durch Wirtschaftssanktionen. Durch den Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler von internationalen Wettkämpfen. Durch die Absage von Auftritten russischer Künstlerinnen und Künstler auf westlichen Theater- und Konzertbühnen. Dadurch, dass es bereits Restaurants gibt, in denen Russinnen und Russen nicht mehr bedient werden, Spitäler, in denen Russinnen und Russen nicht mehr behandelt werden, und Schulen, in denen Kinder mit russischen Namen ausgelacht und beschimpft werden. Ob der Hass damit kleiner wird? Wohl kaum. Höchste Zeit, die Spirale sich gegenseitig verstärkender Gewalt zu durchbrechen und der Kriegslogik eine Friedenslogik entgegenzusetzen. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: Wenn wir uns vom Prinzip “Auge um Auge, Zahn um Zahn” verführen lassen, dann wird alles nur immer noch schlimmer – und am Ende sind wir alle blind.