NATO-Osterweiterung: “Der Westen nützte die Schwäche Russlands schamlos aus.”

 

Die offizielle westliche Sicht auf die NATO-Osterweiterung besagt, dass diese, erstens, zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für Russland bedeutet hat und dass es, zweitens, das Recht eines jeden souveränen Staates sei, selber zu entscheiden, welchem Militärbündnis er angehören wolle. Dieser These widerspricht der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen in seinem Buch “Friede oder Krieg”. “Nach dem Ende des Kalten Kriegs”, schreibt Pleitgen, “machte sich in der US-Rüstungsindustrie die Erkenntnis breit, dass mit dem Ende der Sowjetunion ein Feind abhanden gekommen war, dem die Waffenhersteller viele schöne, vor allem aber gewinnbringende Aufträge verdankten.” Diese “böse Entdeckung” hätte eine machtvolle Gruppe auf den Plan gerufen, einen militärisch-industriellen Komplex, der schon vom früheren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower als “Gefahr für die Demokratie” beschrieben worden sei. Die Vertreter dieses militärisch-industriellen Komplexes hätten in den Staaten Ost- und Mitteleuropas einen “vielversprechenden neuen Markt” gefunden. Rasch hätten die Firmen der amerikanischen Rüstungsindustrie Kontakte zu den potenziellen NATO-Beitrittskandidaten geknüpft und in deren Hauptstädten Büros eingerichtet. Ein weiterer wichtiger Schritt seien die US-Präsidentschaftswahlen Ende 1996 gewesen: “Um die Stimmen der Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa für sich zu gewinnen, versprach Bill Clinton in seinem Wahlkampf die Aufnahme der nunmehr unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion in die NATO. Als er schliesslich die NATO-Osterweiterung als Marshall-Plan für Ost- und Mitteleuropa beschrieb, gab es kein Halten mehr, die Kandidaten für den NATO-Beitritt standen Schlange.” All dies, so Pleitgen, hätte in schärfstem Kontrast gestanden zu dem im Februar 1990 von der Administration George Bush sen. gegenüber Michael Gorbatschow abgegebenen Versprechen, wonach die NATO “keinen Inch” in Richtung Osten erweitert werden sollte, ein Versprechen, das später auch von US-Aussenminister James Baker ausdrücklich bekräftigt worden sei. Auf erhebliches Unverständnis sei das Konzept der NATO-Osterweiterung auch beim amerikanischen Diplomaten, Historiker und Publizisten George Kennan gestossen, der in diesem Zusammenhang von einem “verhängnisvollen Fehler der amerikanischen Politik” gesprochen und davor gewarnt habe, dass diese Entscheidung die russische Aussenpolitik in eine Richtung drängen könnte, die sich früher oder später als grossen Schaden für die amerikanische Sicherheitspolitik erweisen könnte. “In seiner wirtschaftlich desolaten Lage”, so Pleitgen, “hatte Russland gegen den Expansionskurs der NATO keine Chance. Entsprechend matt fiel der Widerstand aus. Der Westen nützte die Schwäche Russlands rigoros aus. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung. 1999 wurden Lettland, Litauen und Polen von der NATO aufgenommen, wenige Jahre später wechselten sieben weitere Länder des ehemaligen Sowjetimperiums in das Atlantische Bündnis.” Auch ein Brief von 40 führenden amerikanischen Politikerinnen und Politikern an Präsident Clinton, in dem das Vorrücken des Westens bis an die Grenzen Russlands als historischer Fehler bezeichnet worden sei, hätte diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten vermocht. Pleitgen verweist in seinem Buch auch auf das Beispiel Finnlands, welches eine der längsten Grenzen zu Russland hat, ein neutraler Staat geblieben ist und gut nachbarliche Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland pflegt. “Man muss sich fragen”, so Pleitgen, “warum sich die politischen Führer des Westens kein Beispiel an Finnland nehmen.” Alle diese bedenkenswerten Ausführungen des langjährigen ARD-Korrespondenten Fritz Pleitgen dürfen selbstverständlich niemals und auch nur im Entferntesten als Rechtfertigung für den russischen Einmarsch in die Ukraine dienen. Aber sie können uns helfen, uns einen etwas differenzierteren Blick auf die Realität zu verschaffen in einer Zeit, da es nur noch Schwarz oder Weiss, nur noch Gut oder Böse zu geben scheint und rein gar nichts mehr dazwischen.