Schweizerische Flüchtlingspolitik: Der Rassismus in unseren Köpfen

 

“Lieber Ukrainer als Afghanen” – so titelt das “Tagblatt” am 16. März 2022. Während in der Schweiz Ukrainerinnen und Ukrainer mit offenen Armen empfangen und von der Bevölkerung bereits 55’000 Privatbetten zur Unterbringung der Flüchtlinge angeboten worden seien, hätte sich bei der Migrationswelle 2015 aus Eritrea, Afghanistan und Syrien die Gastfreundschaft der Schweiz in engsten Grenzen gehalten. Von der grosszügigen und unkomplizierten Aufnahmepraxis mit dem neuen Status “S”, von dem die ukrainischen Flüchtlinge profitierten, hätten die Flüchtlinge aus dem Süden und aus dem Osten, die an den Grenzen Osteuropas unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum in Notunterkünften untergebracht seien oder die Nächte im Freien verbringen müssten, nicht einmal zu träumen gewagt. Gemäss Margrit Oswald, emeritierter Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Bern, liege der Grund für diese eklatanten Unterschiede bezüglich Gastfreundschaft und Aufnahmepraxis darin, dass man sich “kulturell und religiös den Ukrainerinnen und Ukrainern näher fühlt als Menschen aus fernen Ländern.” Die Ukraine sei eben, so Oswald, “Teil der westlichen Wertegemeinschaft”. Auf den ersten Blick ein Argument, das ich nachvollziehen kann, auf den zweiten Blick aber löst der Begriff der “Wertegemeinschaft” gleich eine Vielzahl von Fragen aus. Denn der Begriff der “Wertegemeinschaft” beinhaltet doch, bewusst oder unbewusst, dass die Werte der “eigenen” Gemeinschaft jener anderer Gemeinschaften überlegen seien. Die gleiche Vorstellung schwingt auch mit, wenn wir von mehr oder weniger “entwickelten” Gesellschaften sprechen. Von hier aus ist es dann nur ein kurzer Weg bis zur Überzeugung, der “Wert” eines Menschen sei abhängig von seiner nationalen oder ethnischen Herkunft. Gewiss, niemand wird das so sagen, aber die tägliche Erfahrung zeigt, dass solcher “Rassismus” – Abwertung und Diskriminierung von Menschen oder Volksgruppen gegenüber anderen – immer noch tief in unseren Köpfen steckt. Nur so ist zu erklären, dass die von den USA gegen Afghanistan und den Irak geführten Kriege niemals die gleich hohen medialen Wellen schlugen, wie dies beim Krieg in der Ukraine der Fall ist, obwohl sowohl der Afghanistan- wie auch der Irakkrieg ebenso völkerrechtswidrig waren und gegen eine Million ziviler Opfer forderten. Aber eben, es waren halt “nur” Irakis und Afghaninnen, die der militärischen Macht und Gewalt zum Opfer fielen. Rassismus steckt tiefer in unseren Köpfen, als uns lieb ist. Wenn wir von marokkanischen Landarbeiterinnen und Landarbeitern hören, die auf spanischen Erdbeerfeldern gnadenlos ausgebeutet werden, dann versetzt uns dies für einen kurzen Moment in Schrecken, aber meistens geht das schnell vorbei, es sind ja “nur” Marokkanerinnen und Marokkaner – wären es Deutsche oder Schweizerinnen, würde dies einen europaweiten Schrei des Entsetzens auslösen. Auch die zehntausend Kinder, die weltweit täglich vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs infolge Nahrungsmangels sterben, sind ja “nur” afrikanische, asiatische oder südamerikanische Kinder. Auch die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren “nur” Japanerinnen und Japaner. Und auch auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas wurden über 300 Jahre lang “nur” Afrikanerinnen und Afrikaner zu unmenschlichster, tödlicher Arbeit gezwungen. Wenn wir von “Wertegemeinschaft” sprechen, dann müssen wir sehr genau, sehr differenziert und sehr selbstkritisch jegliches “Wertedenken” und jegliche Form von Rassismus, der sich damit verbindet, hinterfragen. Ja, es gibt unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Ethnien, Religionen, Nationalitäten, Denkweisen. Die Werte der Menschlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der Toleranz und des Friedens aber sind universell. Die einzige “Wertegemeinschaft”, die wirklich zählt, ist die Wertegemeinschaft aller Menschen über alle Grenzen hinweg. Sie ist erst dann an ihrem Ziel angelangt, wenn weltweit ein gutes Leben für alle heute und in Zukunft lebenden Menschen auf diesem Planeten Wirklichkeit geworden ist.