Madeleine Albright, die goldenen Sockel und das kurze Gedächtnis jener, die es eigentlich wissen müssten

 

Madeleine Albright, frühere US-Aussenministerin und am 23. März 2022 im Alter von 84 Jahren verstorben, sei, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 24. März 2022, stets eine glühende Verfechterin der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit gewesen, unter Führung der USA als “Schutzmacht von Demokratie und Freiheit in aller Welt”. Auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock äussert sich auf Twitter geradezu überschwänglich über die verstorbene ehemalige US-Aussenministerin: “Mit Haltung, Klarheit und Mut stand Madeleine Albright als erste US-Aussenministerin ein für Freiheit und die Stärke von Demokratien. Mit ihr verlieren wir eine streitbare Kämpferin, Vorreiterin und wahre Transatlantikerin. Auch ich stehe auf ihren Schultern.” Sowohl der “Tagesanzeiger” wie auch die deutsche Aussenministerin scheinen ein wahrhaft kurzes Gedächtnis zu haben. Bei Annalena Baerbock erstaunt dies umso mehr, als sie ja gerne bei jeder Gelegenheit betont, “Völkerrecht” studiert zu haben. Ist ihr gänzlich entgangen, dass Albright eine knallharte, um nicht zu sagen herzlose Politikerin gewesen ist, die unter anderem für die völkerrechtswidrige Bombardierung Belgrads 1999 wesentlich mitverantwortlich war und sich auch in den frühen Neunzigerjahren für schärfste Sanktionen gegen den Irak eingesetzt hatte, welche infolge Nahrungs- und Medikamentenmangels den Tod einer halben Million Kinder zur Folge hatten? Doch damit nicht genug. Als Albright 1996 in einem Fernsehinterview gefragt wurde, ob die Sanktionen gegen den Irak angesichts des Todes von einer halben Million Kinder diesen Preis wert gewesen seien, antwortete sie wie folgt: “Ja, es war diesen Preis wert.” Der Tod scheint noch die zwielichtigsten historischen Figuren reinzuwaschen, auf einen goldenen Sockel zu heben und alles Vergangene aus der Erinnerung der Menschen zu löschen. Auch beim zwischen 1981 und 1989 amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan war es nicht anders, als er am 5. Juni 2004 mit grossem Pomp zu Grabe getragen wurde. Auch damals war die ganze westliche Welt einhellig des Lobes voll. Und alles war vergessen: Dass Reagan in seinem fanatischen Kampf gegen die Sowjetunion, das “Reich des Bösen”, jedes Mittel Recht war, auch die konsequente Unterstützung mehrerer antikommunistischer Militärdiktaturen. Dass er der rechtsgerichteten Militärregierung von El Salvador, welche Anfang der 1980er Jahre etwa 40’000 Oppositionelle ermorden liess, jegliche militärische und finanzielle Hilfe zukommen liess. Dass er zwischen 1981 und 1990 einen verdeckten Krieg gegen die sandinistische Regierung Nicaraguas führte, welche die gesamte Wirtschaft des Landes zum Erliegen brachte und dem 20’000 bis 60’000 Menschen zum Opfer fielen. Und dass er einen nie dagewesenen Rüstungswettlauf einleitete, dem die Sowjetunion aus wirtschaftlichen Gründen schliesslich nicht mehr gewachsen war, ein Ungleichgewicht, das mit einem zwölf Mal höheren Militärbudget der USA im Vergleich zu Russland bis heute andauert und möglicherweise eine der zahlreichen Wurzeln des aktuellen Ukrainekonflikts bildet. Aber nicht nur der Tod legt einen Deckel über die Vergangenheit. Auch zu Lebzeiten kommt es einzig und allein drauf an, auf welcher Seite der gelobte oder der geschmähte Staatsführer, die gepriesene oder die verachtete Regierungschefin steht, ob auf der Seite der “Guten” oder auf der Seite der “Bösen”: Trotz seiner Zentralamerikapolitik, für die man ihn eigentlich als “Kriegsverbrecher” bezeichnen müsste, wurde Ronald Reagan am 9. November 1992 zum Ehrenbürger von Berlin ernannt. Auch George W. Bush geniesst über alle politischen Parteien hinweg nach wie vor grösstes Ansehen, obwohl er mit seinem 2003 völkerrechtswidrig vom Zaun gerissenen Krieg gegen den Irak über eine halbe Millionen Zivilpersonen in den Tod gerissen hat. Und Barack Obama, US-Präsident von 2009 bis 2017, wurde sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, obwohl er die Zahl der Drohnenangriffe gegen mutmassliche Terroristen in Pakistan und Afghanistan gegenüber seinem Vorgänger George W. Bush massiv steigerte, buchstäblich Luftschläge aus heiterem Himmel, welche die Menschen in ständige Angst und Schrecken versetzten und den Tod tausender Zivilpersonen, darunter auch vieler Kinder, zur Folge hatten. Während also die Führer der “freien Welt”, egal wie viele Menschenleben sie auf dem Gewissen haben, gebauchpinselt, gehätschelt und auf goldene Sockel gestellt werden, sieht es für die anderen, die auf der “falschen” Seite stehen, ganz anders aus: Sowohl der libysche Führer Muammar al-Gaddafi als auch der irakische Präsident Saddam Hussein und der Hauptverdächtige der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center, Bin Laden, wurden alle wegen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” verfolgt und unter teilweise bis heute ungeklärten Umständen durch mehr oder weniger “offizielle” Todeskommandos umgebracht. Auch der serbische Präsident Slobodan Milošević war einer der “Bösen”. Er wurde ans Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert, wo er 2006 kurz vor dem Abschluss seines Verfahrens verstarb. Doch nicht nur, dass dies alles so unbeschreiblich ungerecht ist, muss uns zu denken geben. Und nicht nur, dass “Gerechtigkeit” offensichtlich bloss ein schöneres Wort für das Recht des Stärkeren ist. Nein, zu denken geben muss uns auch, wie klein der Widerstand gegen die Macht der Mächtigen ist, wie kurz das Gedächtnis an Ereignisse, die nur wenige Jahre zurückliegen, wie stromlinienförmig und käuflich die meisten Medien, die sich nur selten an das Hinterfragen der herrschenden Heiligenbilder heranwagen, wie verlogen all die Blumen auf den Gräbern der schlimmsten Übeltäter, statt dass man dort die Namen aller durch ihre Hand zu Tode Gekommener aufschreiben würde…