Die Ukraine im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten und die Notwendigkeit einer neuen Friedensordnung

 

In seinem 1997 erschienenen Buch “Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft” schreibt Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981: “Ohne die Ukraine ist Russland keine Grossmacht. Um Amerikas Vormachtstellung in Europa zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.” Brzezinski spricht in seinem Buch im Zusammenhang mit dem europäisch-asiatischen Raum von einem “Schachbrett”, einem Spielfeld sozusagen, auf dem sich der entscheidende Machtkampf zwischen den Grossmächten abspielen werde. Dies erklärt viel vom Bestreben des Westens, die Ukraine der EU und der NATO einzugliedern, aber auch von den Bestrebungen Russlands, dies unter allen Umständen zu verhindern. Einmal mehr wird ein einzelnes Land zwischen den Interessen der Grossmächte zerrieben, wie das im Laufe der Geschichte so oft geschehen ist, denken wir nur an Vietnam, an den Irak, an Afghanistan oder an Syrien. Wie oft haben im Laufe der Vergangenheit einzelne Staaten den Anspruch auf die “Weltherrschaft” erhoben – und sind zuletzt kläglich daran gescheitert: das Römische Reich, das British Empire, das “Dritte Reich” des Nationalsozialismus. Heute stehen sich als verbleibende Grossmächte die USA, Russland und China gegenüber. Doch der Anspruch, eine Gross- oder gar Weltmacht sein zu wollen, ist nur schon von der Idee her eine völlige Absurdität. Denn dieses Ziel lässt sich ja nur, wie bei einem Wettlauf oder einem Boxkampf, nur erreichen, wenn alle andere Konkurrenten dieses Ziel nicht erreichen. Weltmachtstreben ist somit per se auf Kampf, Niederlagen und Zerstörung ausgerichtet, egal ob mit “friedlichen” oder mit kriegerischen Mitteln – genau das, was die Ukraine in diesen Tagen und Wochen so schmerzlich erfährt und was im Vietnamkrieg zwischen 1955 und 1975 zum Tod von rund einer halben Million Menschen, unermesslicher Zerstörung und Verwüstung geführt hat. Und schauen wir in die Zukunft, sieht es nicht weniger bedrohlich aus: Bereits zeichnet sich ein neues Machtspiel zwischen den Grossmächten ab, diesmal im Pazifischen Raum, wo China den territorialen Anspruch auf Taiwan erhebt, welchem seinerseits im Falle eines Konflikts die militärische Unterstützung durch die USA zugesichert worden ist. Sind wir, was technischen Fortschritt betrifft, schon längst im 21. Jahrhundert angelangt, so bewegt sich die internationale Politik auf dem “Schlachtfeld” gegenseitig konkurrierender Grossmächte noch immer in den Fussstapfen des 19. Jahrhunderts. Als hätte es nicht genug Gelegenheiten gegeben, aus der Geschichte zu lernen. Die Absurdität wurde nie grundsätzlich in Frage gestellt. Die Absurdität nämlich, dass es Staaten wie die USA, Russland und China geben soll, die sozusagen einen von Grund auf anderen Status haben sollen als alle übrigen Länder der Welt, eben den Status einer Gross- bzw. Weltmacht. Was gibt denn einem Staat eine grössere Bedeutung als den anderen? Bloss seine militärische und wirtschaftliche Stärke, die Grösse seines Territoriums, die Anzahl seiner militärischen Stützpunkte, ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Völkern oder Ethnien? Gibt es für all das auch nur im Entferntesten so etwas wie eine demokratische Legitimation? Was haben Amerikaner in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan zu suchen? Was haben Russen in Libyen oder in Syrien verloren? Wer hat die Chinesen nach Kenia, Äthiopien und Mosambik gerufen? Die Forderung nach einer Welt gleichberechtigter Staaten, in der nicht “Grosse” über “Kleinere” bestimmen und diese an ihren Rändern im gegenseitigen Machtkampf zerreiben, ist eine zutiefst demokratische. Das Beispiel mag hinken, dennoch könnte es exemplarische Wirkung haben: Die Schweiz bestand noch bis ins 18. Jahrhundert aus “Freien Orten” einerseits, Untertanengebieten andererseits. Genossen die Menschen in den “Freien Orten” viele demokratische Rechte, waren die Menschen in den Untertanengebieten hingegen unfrei und mussten an ihre Herren hohe Abgaben entrichten – Kolonialismus pur. Heute ist es selbstverständlich, dass die Bewohnerinnen und Bewohner aller Orte – die man heute “Kantone” nennt – die gleichen Rechte haben und niemand von anderen bevormundet wird. Deshalb genügt es nicht, zwischen der Ukraine und Russland einen Friedensvertrag auszuhandeln. Das kann nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt wäre eine neue Weltordnung, in der kein Staat mehr das Rechte hätte, mächtiger zu sein als andere und sein Territorium auf Kosten anderer auszudehnen. Wenn wir es nicht schaffen, eine solche neue, egalitäre Weltordnung aufzubauen, stehen wir nämlich schon bald vor dem nächsten höchst gefährlichen Konflikt im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten, der sich schnell zum dritten Weltkrieg ausweiten könnte. Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977, sagte schon im Jahre 2014 ein weises Wort: “Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein – sie sollte eine Brücke zwischen beiden Seiten sein.” Und eigentlich müsste dies für alle Länder der Welt Gültigkeit bekommen. Zwischen ihnen allen sollten nicht Mauern, Panzer und Atombomben stehen, sondern Brücken gegenseitiger Verständigung, Brücken des Friedens und der Liebe…