Chefkoch S.: “Der schlimmste Tag meines bisherigen Lebens”

 

Meistens, so berichtet die “Sonntagszeitung” am 17. April 2022, steht S., ein 48jähriger Türke, allein in der Küche eines grossen Restaurants im Berner Oberland. Nur an einzelnen Tagen wird er von einem Hilfskoch unterstützt. Am Mittag wird für 300 Ausflüglerinnen und Ausflügler gekocht, abends sind es 70 Gäste, die ein exquisites Fünfgangmenu erwarten. Dazwischen muss die Küche aufgeräumt, ein Grossteil des Abwaschs erledigt, müssen Lieferungen eingeräumt und muss das Fünfgangmenu vorbereitet werden. Am schlimmsten, so S., sei es an Silvester gewesen: “Ich habe derart geschwitzt, dass es in meinen Schuhen nass wurde. Meine Füsse haben geblutet. Ich hatte starke Schmerzen. Es war der schlimmste Tag meines bisherigen Lebens.” 18 Stunden hat er an diesem Tag ohne Pause durchgearbeitet. Zuvor hatte er während zwei Wochen keinen einzigen freien Tag, die tägliche Arbeitszeit beträgt meist über elf Stunden, manchmal arbeitet er bis über 80 Stunden pro Woche. Die Arbeit sei so schwer, dass er im Verlaufe der letzten zwei Monate 15 Kilo abgenommen habe. Nicht viel besser ergeht es B. und M., die in einer Zürcher Bäckerei arbeiten. Besonders schlimm sei Weihnachten gewesen: Als die beiden Konditoren morgens um drei Uhr die Backstube betraten, lag auf dem Tisch eine Tasche, prall gefüllt mit Bestellzetteln für aufwendige Torten. Die Kundinnen und Kunden wünschten sie zu Weihnachten spezielle Schriftzüge, Blumen, Schleifen, alles Mögliche. “Es wäre Arbeit für mindestens sechs Personen gewesen”, sagt B., “doch wir waren nur zu zweit.” Zu den aufwendigen Torten kam das normale Tagesgeschäft dazu, also Gipfeli, Vermicelles oder Focaccia. B. und M. arbeiteten an diesem Vorweihnachtstag ganze 34 Stunden durch. Auch in “gewöhnlichen” Wochen sind Arbeitszeiten von bis zu 90 Stunden keine Seltenheit. Kein Wunder, fühlt sich B. an solchen Tagen “wie ein Sklave”. – Der türkische Chefkoch und die beiden Konditoren in der Zürcher Backstube: Drei von unzähligen Beispielen für prekärste, unmenschlichste Arbeitsbedingungen mitten in einem Land, wo Abertausende andere viel weniger hart arbeiten und sich dennoch um vieles mehr leisten können. Drastischer kann sich die kapitalistische Klassengesellschaft nicht mehr offenbaren: Hier der türkische Koch, seit 18 Stunden auf den Beinen, mit blutenden Füssen – dort, nur wenige Meter entfernt, in gemütlichem Ambiente mit Kerzenlicht, die Gäste, die ihr Fünfgangmenu geniessen, welches er, der Koch, sich niemals leisten könnte. Hier zwei Konditoren, die morgens um drei Uhr fast der Schlag trifft, als sie die Tasche mit den Bestellzetteln für Torten und unzählige Extrawünsche öffnen – dort die Feiern und die Partys, wo die Torten genüsslich verzehrt werden. Würde Karl Marx noch leben, er sähe sich in allen seinen Analysen und Prognosen tausendfach bestätigt. Klassengesellschaft pur. Ausbeutung pur. Ein Gesamtsystem, in dem permanent ein mindestens doppelter Diebstahl stattfindet: Der erste Diebstahl, dass in gewissen beruflichen Tätigkeiten und gesellschaftlichen Positionen weit mehr verdient wird, als man eigentlich zum Leben bräuchte, während es wiederum in vielen anderen beruflichen Tätigkeiten genau umgekehrt ist und man nicht einmal genug verdient, um einigermassen anständig davon leben zu können. Der zweite Diebstahl, dass all jene, die schon bezüglich ihres Einkommens auf der Verliererseite stehen und um eine faire Entlohnung betrogen worden sind, nun ein zweites Mal beraubt werden, indem sie gezwungen sind, ihre Arbeitskraft in Form einer Dienstleistung ausgerechnet jenen zur Verfügung zu stellen, von denen sie bereits ein erstes Mal bestohlen worden sind. Verschleiert werden alle diese Ausbeutungsverhältnisse, indem “Täter” und “Opfer” fein säuberlich voneinander getrennt sind: Liegt das wohlschmeckende Gericht auf dem Teller vor dem Gast, so erinnert es nicht im Entferntesten an die Schmerzen, unter denen es zubereitet worden ist. Keine Torte erzählt die Geschichte eines Bäckers, der sich frühmorgens um zwei aus dem Bett quälen und dann ohne Pause 34 Stunden lang arbeiten musste. Die Spielzeugpuppe unter dem Weihnachtsbaum weiss nichts von den Tränen der kaputtgearbeiteten Fabrikarbeiterin in Bangladesch, in deren Händen sie entstanden ist. Und nirgendwo im Werbeprospekt oder der Betriebsanleitung des auf Hochglanz polierten SUV, den sich mein Nachbar stolz erworben hat, gibt es auch nur den geringsten Hinweis auf die Arbeitsbedingungen, unter denen Rohstoffe und seltene Metalle für das Fahrzeug aus gefährlichen Minen im fernen Afrika herausbefördert wurden. Auf Selbsttäuschung, Illusionen und dem Unsichtbarmachen der tatsächlichen Ausbeutungsverhältnisse beruht aber auch all das, was wir “sozialen Aufstieg” nennen. Sozial aufsteigen kann man nämlich immer nur auf Kosten anderer. Feiert sich der Bankdirektor als Krönung seiner Karriere, so ist dies nur deshalb möglich, weil genug andere nicht Bankdirektor geworden sind. Er könnte diesen Job nämlich nicht ausüben, wenn es nicht genügend Arbeiterinnen und Arbeiter gäbe, die sich um die tägliche Nahrung kümmern, die Kleider nähen, Häuser und Strassen bauen, kranke Menschen pflegen und noch vieles, vieles mehr. Dennoch wird der Bankdirektor, obwohl er auf alle diese Arbeiterinnen und Arbeiter existenziell angewiesen ist, einen um ein Vielfaches höheren Lohn erhalten als jene. Dass so viel Ungerechtigkeit, so viel Ausbeutung, eine so knallharte Klassengesellschaft immer noch Wirklichkeit sind, kann wohl nur damit erklärt werden, dass im Laufe von 500 Jahren Kapitalismus in unseren Köpfen das Verrückte immer mehr zum Normalen geworden ist und wir uns etwas anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Wie viele Leiden, wie viele Verrücktheiten, wie viele blutende Füsse eines türkischen Chefkochs und wie viele krankgearbeitete Bäckerinnen und Bäcker braucht es wohl noch, bis sich vielleicht doch noch etwas zu ändern beginnt?