Ukraine: Wir sehen die Realität nur, wenn wir durch beide Brillengläser schauen

 

Aufgrund neuester Umfragen zeigt schweizweit jede dritte Person in der Alterskategorie der 18- bis 34Jährigen Verständnis für die Motive Wladimir Putins im Krieg um die Ukraine. Dies berichtet der “Tagesanzeiger” am 20. April 2022. Zwar würden die “jungen Putinversteher” – so der Titel des Zeitungsartikels – den Krieg grundsätzlich verurteilen, im Einzelnen sähen sie aber die Rolle und die Mitverantwortung des Westens an diesem Konflikt durchaus kritisch. Aussagen wie diese seien bei den jungen “Putinverstehern” häufig anzutreffen: Die NATO sei ein “imperiales Instrument” und dem Interesse der USA dienend, das westliche Militärbündnis habe mit seiner ständigen Expansion nach Osten Russland provoziert, die NATO hätte nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgelöst werden müssen, die Sanktionen gegen Russland seien kontraproduktiv, schädlich und würden die Neutralität der Schweiz untergraben. Auch in den USA, so der “Tagesanzeiger”, würden nur 56 Prozent der befragten 18- bis 29Jährigen eher mit der Ukraine als mit Russland sympathisieren, ähnlich sähe es in Frankreich und in Grossbritannien aus. Der Zürcher Politologe Michael Hermann sieht gemäss “Tagesanzeiger” den Grund für diese überproportionale “Russlandfreundlichkeit” der jüngeren Altersgruppe vor allem darin, dass sich Jugendliche vorwiegend in den sozialen Medien informierten und deshalb in besonders hohem Masse den “Lügen der gut funktionierenden russischen Propaganda” ausgesetzt seien. Diese Aussage erscheint mir höchst problematisch. Tatsache ist doch, dass man keineswegs der “russischen Propaganda” auf den Leim gehen muss, um eine kritische Haltung gegenüber dem Westen, den USA und der NATO einzunehmen. Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher genügt nämlich vollauf, um jenes “Verständnis” gegenüber Putin aufzubringen, das zwar niemals auch nur ansatzweise diesen Krieg rechtfertigen darf, aber uns auch gleichzeitig von einer zu starren Freund-Feind-Optik und einer blinden Reduktion auf das vermeintlich “Gute” und “Böse” befreien kann. So zum Beispiel sagte der US-Historiker George F. Kennan schon 1997: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Auch Ronald Popp von der Militärakademie der ETH Zürich sieht in der NATO-Osterweiterung ein grosses Konfliktpotenzial: “Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.” Der französische Staatspräsident François Mitterand plädierte schon aus diesem Grunde anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion sogar für eine ersatzlose Auflösung der NATO. Was die Ukraine betrifft, so prophezeite schon 1997 der frühere US-Politberater Zbignew Brzezinski, dass hier dereinst der entscheidende Machtkampf zwischen Ost und West um die Vormachtstellung im eurasischen Raum erfolgen würde. In weiser Voraussicht, dass ein solcher Machtkampf auf beiden Seiten nur Verlierer hervorbringen würde, schlug daher der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger im Jahre 2014 folgerichtig vor, dass die Ukraine nicht der “Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen” sein sollte, sondern eine “Brücke zwischen beiden Seiten”. Hart ins Gericht mit der westlichen Ukrainepolitik geht auch der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen: “Historiker künftiger Generationen werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass Europas schwerste Ost-West-Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Entscheidung der Europäischen Union ausgelöst wurde, die Ukraine auf die Seite des Westens zu ziehen. Nein, der Westen kann in Bezug auf die Ukrainekrise nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden.” Nicht viel anders tönt es bei Catherine Belton, Moskauer Korrespondentin der “Financial Times” von 2006 bis 2013: Obwohl der NATO-Beitritt der Ukraine noch nicht spruchreif gewesen sei, hätte das westliche Verteidigungsbündnis bereits die ukrainische Armee vor Ort trainiert, westliche Waffen wären ins Land geströmt und die ukrainische Armee sei auf NATO-Standards umgestellt worden – man sei, so Belton, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so euphorisch gewesen, dass man geglaubt habe, den Russen bliebe gar nichts anderes übrig als sich anzupassen und sich in die vom Westen geführte Welt zu integrieren. Auch um gegenüber dem Verhängen von Wirtschaftssanktionen eine kritische Haltung einzunehmen, muss man sich nicht von “russischer Propaganda” verführen lassen. Es genügt, den “Tagesanzeiger” vom 22. Februar 2022 zu lesen, die gleiche Zeitung also, die jetzt, am 20. April 2022, offensichtlich felsenfest von der Notwendigkeit und der Wirksamkeit von Sanktionen überzeugt ist: “Sanktionen”, schrieb die Zeitung am 22. Februar, “wirken ähnlich wie gewaltsame Konflikte oder Naturkatastrophen. Sie treffen vor allem die Benachteiligten. In der Regel verstärken sie die Repression im betroffenen Land, zu einem Nachgeben oder einem Regimewechsel kommt es selten.” Wenn jenem Drittel der jüngeren Altersgruppe, welche gegenüber Putin gewisse Sympathien an den Tag legen und gegenüber der Politik des Westens, der USA und der NATO eine kritische Handlung einnehmen, vorgeworfen wird, sie hätten sich von der russischen “Lügenpropaganda” übers Ohr hauen lassen, dann müsste man diesen Ball eigentlich in aller Deutlichkeit und Entschiedenheit wieder zurückspielen. Propaganda ist nämlich nicht nur das, was zum Beispiel russische Nachrichtensender wie “Russia Today” betreiben. Auch westliche Medien betreiben Propaganda: Wenn historische Zusammenhänge und Hintergründe bewusst verschwiegen werden, selber verschuldete und mitverantwortete Ursachen des Konflikts konsequent ausgeklammert werden, selbstkritische Stimmen in Zeitungen und am Fernsehen kaum noch zu hören sind und jeder, der nur die leiseste Kritik an der westlichen Politik zu äussern wagt, sogleich als “Putinversteher” abgestempelt und mundtot gemacht wird. Ältere Menschen, so meint der Politologe Michael Hermann im vorliegenden Artikel des “Tagesanzeigers”, seien grundsätzlich besser informiert und in ihrem Urteil “weniger wankelmütig”. Ich glaube, eher ist das Gegenteil der Fall. Interessanterweise herrscht ja in der westlichen Mainstreamoptik die Meinung, dass in Russland die jungen Menschen besser informiert seien als die ältere Bevölkerung, welche sich nur über das Staatsfernsehen informiere. Weshalb sollte es in den westlichen Ländern anders sein? Ich jedenfalls habe in der allabendlichen Tagesschau – und diese ist wohl eine unserer wichtigsten Informationsinstrumente zur öffentlichen Meinungsbildung – noch nie etwas gehört über die Gräueltaten des ukrainischen Asow-Regiments, über die jahrzehntelange Lobbyarbeit amerikanischer Rüstungskonzerne in den potenzielle NATO-Staaten, über die zahlreichen Benachteiligungen und Diskriminierungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, über die vielen Verletzungen des Waffenstillstands in der Ostukraine durch ukrainische Militäreinheiten seit 2014, über die russischfeindlichen Brandreden nationalsozialistischer Volksaufhetzer auf dem Kiewer Maidan anfangs 2014, über die Verfolgung, Folterung und Hinrichtung politischer Oppositioneller, darüber, dass Wolodomir Selenski elf politische Parteien, drei regierungskritische Nachrichtensender sowie mehrere Zeitungen verboten hat, darüber, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder der Welt ist, und darüber, dass die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland. “Das eine Glas der Brille”, sagt der eine der beiden “Putinversteher” im Artikel des “Tagesanzeigers” so treffend, “ist die westliche Sicht, das andere die östliche. Und man braucht beide, um den Konflikt zu verstehen.” Wie viel wäre doch gewonnen, wenn wir uns alle dies zum Vorbild nähmen!