Frontex: Wir brauchen dringend neue Ideen

 

Am 15. Mai 2022 wird darüber abgestimmt, ob der Schweizer Beitrag an die Grenzschutzagentur Frontex von 14 auf 61 Millionen Franken pro Jahr erhöht und damit ein wesentlicher Ausbau der Frontex unterstützt werden soll. “Gewalt, Elend und Tod”, schreibt das Referendumskomitee, das eine Ablehnung dieser Abstimmungsvorlage empfiehlt, “sind an den Aussengrenzen Europas Alltag geworden. Flüchtende werden entrechtet, geprügelt und abgeschoben.” Malek Ossi, der über die sogenannte Balkanroute in die Schweiz geflüchtet ist, sagt im Interview mit der “Wochenzeitung” vom 21. April: “Wenn ich das Wort Frontex höre, denke ich an das Grenzregime, an Gewalt und Militarisierung, an Abschottung, gesunkene Flüchtlingsboote und Ausschaffungen.” Und Amine Diare Conde, der auf dem Weg über das Mittelmeer in die Schweiz gekommen ist, sagt: “Ja, es geht um einen Krieg gegen Geflüchtete. Frontex ist dazu da, gegen Menschen vorzugehen, die auf der Suche nach Freiheit und Schutz fliehen. Ich habe fünfmal die Überfahrt versucht und wurde dreimal aufgegriffen. Wir wurden zurück in die Wüste geschickt, wir mussten tagelang ohne Essen und Wasser durch den Sand gehen. Nein, Frontex funktioniert nicht – es stirbt bloss noch eine grössere Anzahl Menschen. Zudem kann Frontex nicht verhindern, dass Menschen fliehen. Warum also nicht neue Ideen entwickeln?” Das ist der springende Punkt. Es braucht in der Tag neue, von Grund auf andere Ideen. Wir brauchen, einfach gesagt, eine Welt, in der überall die Menschen unter so guten Bedingungen leben können, dass niemand mehr gezwungen ist, auf der Suche nach einem besseren Leben seine Heimat zu verlassen – alles andere ist reine Symptombekämpfung. Ich sehe drei Hauptursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Die erste ist das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern. 500 Jahre kolonialistische Ausbeutung, die bis in unsere Tage andauert, sind die Ursache dafür, dass die reichen Länder im Laufe der Zeit immer reicher und die armen immer ärmer geworden sind – bis hin zur unfassbaren Tatsache, dass heutzutage die gut verdienenden Bevölkerungsschichten in den Ländern des Nordens in einem nie dagewesenen Luxus schwelgen, während gleichzeitig eine Milliarde Menschen hungern und jeden Tag weltweit zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen oder kein sauberes Trinkwasser haben. Dass die Ausbeutung der Armen durch die Reichen unvermindert weitergeht und die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können, zeigt folgende Zahl der Entwicklungsorganisation Oxfam: Aus dem Handel mit “Entwicklungsländern” zieht die Schweiz einen fast 50 Mal höheren Profit, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt. Die zweite Fluchtursache ist der Krieg. Und auch hier, ob im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen oder im Jemen, überall haben die “entwickelten” Länder des Nordens, allen voran die USA, ihre Finger im Spiel, angetrieben vom perversesten aller Industriezweige, jenem nämlich, der seine Gewinne daraus schöpft, dass zehntausendfaches Leben vernichtet, ganze Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht, ganze Volkswirtschaften zerstört und Elend über viele Generationen hinweg geschaffen wird. Längst hätten es die reichen Länder des Nordens in der Hand, durch den Abbau ihrer exorbitanten Militärarsenale mit dem guten Beispiel voranzugehen und alle ihre Beziehungen zu den Ländern des Südens niemals auf Armeen und auf Gewalt aufzubauen, sondern einzig und allein auf der friedlichen Unterstützung zum Aufbau funktionierender Zivilgesellschaften. Die dritte Fluchtursache ist der Klimawandel. Bereits heute leiden 3,5 Milliarden Menschen weltweit unter den Folgen von Dürre, fehlendem Wasser, Stürmen, Überschwemmungen und dem durch die Klimaerhitzung verursachten Anstieg des Meeresspiegels. Und auch hier liegen die Schlüssel zur Lösung des Problems bei den “entwickelten” Ländern des Nordens, welche mit Abstand die grössten Verursacher des Klimawandels sind, während die Länder des Südens, die selber am wenigsten an der Klimaerwärmung Schuld sind, dennoch am allermeisten darunter leiden. Wenn es uns nicht gelingt, bei den eigentlichen Fluchtursachen anzusetzen, dann können wir noch so viele finanzielle Mittel in eine Grenzschutzbehörde hineinpumpen, deren Auftrag kein anderer ist, als flüchtende Menschen aufzuhalten und sie in das Elend, woher sie gekommen sind, mit Gewalt wieder zurückzuschicken. Wir könnten, wenn alles so weitergeht wie bisher, ganze Armeen gegen flüchtende Menschen in den Krieg schicken und dennoch würden wir das Problem nicht lösen, sondern es würde nur alles noch viel schlimmer. Der Krieg in der Ukraine, viele weitere Kriege in anderen Ländern, von denen schon gar niemand mehr spricht, Hunger und Armut, Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Profitmaximierung – wann endlich verstehen wir die Zeichen der Zeit? Wann endlich geben wir es auf, bloss die Symptome zu bekämpfen, statt endlich an die Ursachen aller Übel heranzugehen und eine Welt aufzubauen, in der alle Menschen, unabhängig davon, wo und wann sie geboren wurden, ein gutes Leben haben? “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.”