Die USA – fragwürdige Schutzmacht für “Freiheit” und “Demokratie”

 

1. August 1964. Im Golf von Tonkin kommt es zu einem, wie sich später herausstellen wird, fingierten Angriff nordvietnamesischer Schnellboote gegen ein US-Kriegsschiff – die nun folgenden “Vergeltungsschläge” der USA sind seit Monaten vorbereitet worden. Es folgt die massive Bombardierung Nordvietnams durch die US Air Force, Napalm und Splitterbomben töten Abertausende von Soldaten wie auch Zivilpersonen; Infrastruktur, Militäreinrichtungen und die Energieversorgung Nordvietnams werden weitgehend zerstört. Was nicht die Bomben zerstören, das zerstören Agent Orange, Agent Blue, Agent Purple und Agent White, hochgiftige Herbizide, die vor allem in den Grenzgebieten zu Laos und Kambodscha systematisch versprüht werden, um Strassen, Wasserwege, Grenzgebiete und Nachschubwege zwischen dem Norden und dem Süden freizulegen und Ernten zu vernichten. Am 16. März 1968 – und das ist nur eines von zahllosen ähnlichen Vorkommnissen – durchsuchen US-Soldaten das Dorf My Lai nach Kämpfern des Vietcong. Die Soldaten vergewaltigen Frauen und ermorden fast alle der 520 Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes, auch Frauen und Kinder, selbst die Tiere. Ab Februar 1969 werden in 14 Monaten rund 100’000 Tonnen Bomben auf die Rückzugsgebiete der kommunistischen Kämpfer in Kambodscha und Laos abgeworfen. Anschliessend durchsuchen US-Spezialtrupps die betroffenen Gebiete, um Überlebende zu töten, es sterben eine unbekannte Zahl an Zivilpersonen. Zwischen 1969 und 1972 erfolgen weitere schwere Luftangriffe der USA auf Kambodscha und Laos. Gemäss Schätzungen der kambodschanischen Regierung wird ein Fünftel der Güter des Landes zerstört, zwei von sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohner werden aus den ländlichen Gebieten in die Städte vertrieben. Am 8. Mai 1972 kündigt US-Präsident Nixon erneute Flächenbombardierungen Nordvietnams an, insgesamt werden 112’000 Tonnen Bomben abgeworfen, 125’000 Kämpfer Nordvietnams kommen ums Leben. Dennoch erleiden die US-Truppen in immer grösserem Umfang Rückschläge, es beginnt der schrittweise Rückzug, bis der letzte US-Soldat am 26. März 1975 das Land verlässt. Insgesamt sind – in Vietnam, Laos und Kambodscha – diesem Krieg rund vier Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Etwa drei Mal so viele Bomben wie im gesamten Zweiten Weltkrieg sind von der US Air Force über Vietnam, Laos und Kambodscha zwischen 1964 und 1975 abgeworfen worden, zurück geblieben sind 21 Millionen Bombenkrater in Gegenden, die so aussehen wie Mondlandschaften. 200’000 Behinderte hat der Krieg zurückgelassen, weite Teile ehemals fruchtbaren Landes sind dauerhaft geschädigt und noch Jahre später werden Hunderttausende von Menschen unter Krebserkrankungen als Folge der versprühten Herbizide leiden. Und dabei ist der Vietnamkrieg nur einer von insgesamt 44 US-Militärinterventionen seit 1945, von Liberia bis Bangladesch, von Zaire bis Grenada, von Bolivien bis Bosnien, von Ungarn bis Kurdistan, von Uganda bis Serbien, von Afghanistan bis zum Irak. Auf 20 bis 30 Millionen Tote und 200 – 300 Millionen Verletzte werden die Opfer der US-Militärinterventionen seit 1945 geschätzt, das sind doppelt so viele wie die Opfer des gesamten Ersten Weltkriegs. Man soll Putins Feldzug gegen die Ukraine in aller Schärfe verurteilen, keine Frage. Aber wenn man mit dem einen Auge, zu Recht, so kritisch schaut, dann dürfte man das andere Auge deswegen noch lange nicht einfach verschliessen. Jeder Krieg und jede Militärintervention, die von den USA angezettelt wurden, sind kein bisschen weniger verbrecherisch als all jene Kriege und Militärinterventionen, die von der Sowjetunion bzw. von Russland angezettelt wurden. All jene, die heute so entschieden und widerspruchlos auf der einen Seite das “böse” Russland und auf der anderen Seite die “guten” USA sehen, sollten sich wenigstens eine Stunde Zeit nehmen, um all jene Kriegsverbrechen nachzulesen, die von den US-Präsidenten von Richard Nixon bis George W. Bush begangen worden sind, ohne dass jemals einer von ihnen vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt worden wäre. Vielleicht würden sie ihre Meinung, die sie heute so klar und lautstark vertreten, wenigstens ein klein wenig in Frage stellen…  Kann man angesichts solcher Weltherrschaftspolitik und solcher alle Vorstellungskraft übersteigender, bis heute nicht gesühnter Kriegsverbrechen tatsächlich guten Glaubens davon ausgehen, den USA ginge es bei ihrer jetzigen Parteinahme für die Ukraine einzig und allein um den selbstlosen Einsatz für “Freiheit” und “Demokratie”? Oder könnten hier vielleicht nicht eher noch ganz handfeste Grossmachtinteressen dahinterstecken? Dies würde jedenfalls sehr gut in jenes Bild passen, das wir über die 44 Militärinventionen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hinweg erkennen. Der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbignew Brzezinski sagte schon 1997, die Ukraine stehe an der Schnittstelle zwischen den Grossmachtinteressen im europäisch-asiatischen Raum. Dass es nicht nur um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine geht, sondern auch handfeste Machtinteressen der USA im Spiel sind, zeigt sich auch darin, dass bereits 1997 ein Kooperationsvertrag zwischen der Ukraine und der Nato abgeschlossen wurde und das US-Militär in der Ausbildung und Bewaffnung ukrainischer Streitkräfte seit Längerem aktiv ist. So entschieden die USA die Ukraine in ihrem Machtbereich sehen wollen, so entschieden will  Russland das verhindern – genau das, was Brzezinski vorausgesehen hatte. Deshalb gibt es eigentlich nur eine einzige wirklich dauerhafte Lösung des Konflikts. Es ist jene, die der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger 2014 vorgeschlagen hat: “Die Ukraine”, sagte er, “darf nicht der Vorpfosten der einen oder anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.” Hierzu müssten freilich beide Konfliktparteien von ihren Maximalforderungen abweichen und zu einer Lösung finden, zu der beide Seiten ja sagen könnten. Alles andere ist ein Irrweg mit so vielen Gefahren, dass nur alles Erdenkliche getan werden muss, um ihn zu vermeiden…