Die russischen Medien seien gleichgeschaltet – aber wie ist es denn mit den westlichen Medien?

 

“Einmaleins der Kriegstreiberei” titelt die “NZZ am Sonntag” vom 1. Mai 2022. Der ganzseitige Artikel führt aus, wie es Wladimir Putin gelungen sei, “sein Volk gegen die Ukraine einzuschwören”. Erstens, indem er das ukrainische Volk zum Feind gemacht und entmenschlicht habe. Zweitens, indem er die Medien gleichgeschaltet und die Bürgerinnen und Bürger entmündigt habe. Drittens, indem der Bevölkerung ein Opferkult eingetrichtert worden sei. Viertens, indem die Kirche zum Sprachrohr der staatlichen Propaganda gemacht worden sei. Und fünftens, indem die Geschichte zu einem grossen Freiheitskampf des russischen Volks umgeschrieben worden sei. Die Ausführungen sind in ihrer Einseitigkeit nicht zu überbieten. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass westliche Macht- und Expansionspolitik ebenfalls wesentlich zum Ausbruch des Ukrainekonflikts beigetragen haben. Kein Wort über die Zusicherung des Westens, die NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht weiter nach Osten auszudehnen – eine Zusicherung, die dann nach und nach gebrochen wurde, indem die NATO schliesslich bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt wurde. Kein Wort darüber, dass die USA mit der Ukraine bereits 1997 einen Kooperationsvertrag abschlossen, in dessen Gefolge gemeinsame Militärmanöver durchgeführt, ukrainisches Militär durch US-Spezialisten trainiert und Waffen aus den USA in die Ukraine geliefert wurden. Kein Wort darüber, dass Wladimir Putin nach seinem Amtsantritt 2001 trotz der westlichen Macht- und Expansionspolitik des Westens die Hand ausstreckte und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorschlug, die vom Westen in Bausch und Bogen verworfen wurde. Kein Wort darüber, dass der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger im Wissen um die immense geostrategische Bedeutung der Ukraine vorschlug, das Land sollte einen “neutralen Status” annehmen und als “Brücke” zwischen Ost und West dienen. Kein Wort über die Rolle der CIA beim Sturz der russlandfreundlichen ukrainischen Regierung anfangs 2014. Kein Wort über die Brandreden ukrainischer Faschisten auf dem Maidan und ihre Forderungen nach einer “Auslöschung” des russischen Volks. Kein Wort darüber, dass der im Minsker Abkommen vereinbarte Waffenstillstand für den Donbass nicht nur von russischen Separatisten, sondern auch von ukrainischen Einheiten immer wieder verletzt wurde. Kein Wort über die unvorstellbaren Gräueltaten und Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Asow-Regiments in der Ostukraine zwischen 2014 und 2021. Wenn die “NZZ am Sonntag” über die “Gleichschaltung der russischen Medien” spricht, dann müsste sie sich wohl ehrlicherweise diesen Vorwurf auch in umgekehrter Richtung gefallen lassen. Wenn man in einem ganzseitigen Zeitungsartikel bloss akribisch sämtliche Fehler und Untaten der einen Seite auflistet, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf Fehler und Untaten der anderen Seite, dann ist auch das reine Propaganda und hat mit differenziertem, objektivem, ausgewogenem und aufgeklärtem Journalismus nur noch wenig zu tun. Im Gegenteil: Eine solche “Berichterstattung” giesst nur unnötig Öl ins Feuer all jener, die sowieso schon immer lauter nach “Rache” und “Vergeltung” rufen oder gar schon nach dem endgültigen Sieg, einer endgültigen Niederlage und Vernichtung des vermeintlich “Bösen”. Der durchschnittliche Zeitungsleser, die durchschnittliche Fernsehzuschauerin, sie haben meistens nicht genug Zeit, sich mit sämtlichen komplexen Hintergründen des Geschehens auseinanderzusetzen, konträre Standpunkte kennenzulernen oder gar einschlägige Bücher zu lesen. Eine umso wichtigere Aufgabe kommt daher den Journalistinnen und Journalisten zu, ihre Aufgabe ist es, Hintergründe und Zusammenhänge aufzudecken, ohne sich zum Sprachrohr der einen oder der anderen Seite zu machen. “Ein Dialog setzt voraus, dass der andere recht haben könnte”, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Was für den Dialog gilt, das gilt auch für die mediale Berichterstattung. Diese Weisheit scheint in diesen turbulenten und kriegslüsternen Zeiten immer mehr verlorenzugehen. Zugegeben, es ist nicht einfach. Aber gerade deshalb umso wichtiger. Wer sagt denn, dass alles, was der ukrainische Präsident Selenski oder der amerikanische Verteidigungsminister Austin sagen, stets die reine Wahrheit ist, und alles, was der russische Präsident Putin oder sein Aussenminister Lawrow sagen, stets nur gelogen ist? Ich bin gespannt. Vielleicht folgt ja in der nächsten “NZZ am Sonntag” der zweite Teil, die Gegenseite, die andere Seite der Geschichte. Den Titel, “Einmaleins der Kriegstreiberei”, könnte man ruhig noch einmal verwenden…