Globalisierung bringe Fortschritt? Gewisse Behauptungen werden auch dann nicht wahrer, wenn man sie bis zum Gehtnichtmehr wiederholt…

 

Die Welt brauche nicht weniger, sondern mehr Globalisierung, denn die Globalisierung bringe Fortschritt – diese Meinung von Swissmem-Direktor Stefan Brupbacher ist nur eine von vielen Stimmen, welche der Globalisierung ausschliesslich positive Seiten abgewinnen und sich vehement gegen eine Abkehr von der Globalisierung aussprechen. Doch eine Meinung wird nicht dadurch zur Wahrheit, dass man sie bis zum Gehtnichtmehr wiederholt. Zwar trifft es zu, dass, wie Globalisierungsbefürworter ins Feld führen, zwischen 1990 und 2018 1,3 Milliarden Menschen aus extremer Armut befreit werden konnten. Aber erstens ist das nicht nur eine Folge der Globalisierung und zweitens müsste man im gleichen Atemzug erwähnen, dass eine ebenso grosse Anzahl von Menschen, nämlich rund 1,3 Milliarden, auch heute noch in bitterster Armut leben und jeden Tag rund 15’000 Kinder weltweit vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Von einem wirklich erfolgreichen Wirtschaftsmodell könnten wir erst dann sprechen, wenn tatsächlich weltweit sämtliche Armut und sämtlicher Hunger ohne Ausnahme verschwunden wären – ein Zustand, den man in Anbetracht der gesamthaft zur Verfügung stehenden Ressourcen heute schon problemlos erreichen könnte, denn die Erde, so Mahatma Gandhi, hat genug für jedermanns Bedürfnisse, nicht aber für jedermanns Gier. Auch Heiner Geissler, bekannter deutscher CDU-Politiker, sagte:

„Die
Behauptung, es gäbe kein Geld, um das Elend in der Welt zu beseitigen, ist eine
Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.“
Das zweite Argument für den Erfolg der Globalisierung liege daran, dass die westlichen Konsumentinnen und Konsumenten in nie da gewesener Weise davon profitierten. So etwa sei in der Schweiz zwischen 1990 und 2014 der Wohlstand pro Kopf jährlich um 1360 Euro gestiegen. Doch auch dies ist ein höchst zweischneidiges Schwert. Denn in aller Regel fehlt all der Reichtum, der am einen Ort aufgeschichtet wird, an anderen Orten umso mehr. Gemäss der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit “Entwicklungsländern” rund 50 Mal mehr, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Weshalb konnten Schweizerinnen und Schweizer ihren Wohlstand zwischen 1990 und 2014 so massiv steigern? Liegt es nicht vor allem auch daran, dass jene, welche die eigentliche “Knochenarbeit” zur Herstellung zahlloser Produkte leisten, den weitaus geringsten Anteil an der Wertschöpfungskette haben und zu Hungerlöhnen und extrem anstrengenden Bedingungen arbeiten müssen? Angefangen vom kongolesischen Minenarbeiter, der dafür sorgt, dass genügend Edelmetalle zur Verfügung stehen, um einem immer grösseren Teil unserer Bevölkerung einen stolzen SUV erschwinglich zu machen, über die Textilarbeiterinnen in Bangladesch und Kambodscha, die nicht selten rund um die Uhr bis zu Erschöpfung arbeiten, damit sich das modebewusste Publikum in der Schweiz viel mehr Kleider leisten kann, als es tatsächlich braucht, bis hin zur ecuadorianischen Kaffeebäuerin, ohne welche wir unseren täglichen Muntermacher glatt vergessen könnten. Aber nicht nur von Land zu Land, sondern auch innerhalb jedes einzelnen Landes der globalisierten Welt ist Reichtum höchst ungleich verteilt. Dies aus dem einfach Grund, dass im Kapitalismus, dem Grundmotor für die Globalisierung, die Güter stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht würden, sondern dorthin, wo es genug Geld gibt, um sie kaufen zu können. Auch die dritte Begründung für die Globalisierung, sie fördere den Umweltschutz, hält einer näherer Überprüfung nicht Stand. Da die Globalisierung nach wie vor auf das Prinzip eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ausgerichtet ist, werden ständig viel mehr Güter und natürliche Ressourcen verbraucht, als die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Ist die Globalisierung schlecht für eine sozial gerechte Verteilung von Gütern, Dienstleistungen und natürlichen Ressourcen, so ist sie es für die Zukunft der Menschheit erst recht. Globalisierung bedeutet nämlich nichts anderes, als dass wir, auf dem Weg nach immer mehr “Wohlstand” für eine Minderheit, genau jenen Ast absägen, auf dem wir alle sitzen. Spätestens in 20 Jahren wird kein Mensch mehr behaupten können, die “Globalisierung” bringe “Fortschritt”. Noch wäre es genug früh für eine radikale Neubesinnung. Coronapandemie, Klimawandel und der Krieg in der Ukraine haben den bisher unverrückbaren Felsen der Globalisierung ganz gehörig ins Wanken gebracht. Die Lösung kann nicht darin liegen, an der Globalisierung – im Sinne der kapitalistischen Wachstumslogik – wider alle Vernunft festzuhalten. Die Lösung muss darin liegen, eine neue, nichtkapitalistische Form von “Globalisierung” zu erarbeiten, die auf sozialer Gerechtigkeit, einem schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen und weltweitem Frieden beruht in einer Welt, in der die einzelnen Länder nicht mehr gegenseitige Räuber und Kriegstreiber sind, sondern Partner in gegenseitigem Ausgleich und gegenseitiger Unterstützung in einer Welt, in der ein gutes Leben für alle hier und heute, wie auch für zukünftige Generationen Wirklichkeit geworden ist. Noch nie war die Chance für eine radikale Neuerung so greifbar nahe wie heute. Noch nie aber war auch die Gefahr grösser, diese Chance zu verpassen und wider alle Vernunft am bisherigen Kurs der Globalisierung festzuhalten. „Der Kapitalismus”, sagte der Philosoph Lucien Sève, “wird nicht von selbst
zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie
der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen,
um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“