Weshalb wir zu Kitaangestellten, Krankenpflegerinnen, Bauarbeitern, Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Fabrikarbeitern so viel mehr Sorge tragen müssten…

 

“Die meisten steigen bis Mitte zwanzig aus”, sagt die 27jährige Kitaangestellte L.W. in der Gewerkschaftszeitung “work”, “der dauernde Personalmangel, der Druck, das macht dich kaputt.” Immer wieder müssen Kitas infolge Personalmangels den Betreuungsschlüssel erhöhen, was bedeutet, dass sich zu wenige Betreuende für längere Zeit gleichzeitig um zu viele Kinder kümmern müssen. Die Folge: Immer mehr Berufsausstiege, durch wird der Druck auf die Verbliebenen noch grösser – ein Teufelskreis. “Alarm, Alarm, Alarm!”, schreibt auch das “Tagblatt” am 23. Mai 2022. Doch nicht nur bei der vorschulischen Kinderbetreuung brodelt es. Von einem Fachkräftemangel hört man aus allen Ecken und Enden, in der Kranken- und Alterspflege, bei Handwerkerinnen und Handwerkern, in der Gastronomie. Dies alles ist kein Zufall, sondern die ganz direkte und logische Folge eines falschen Bildungssystems. Schon von klein auf wird den Kindern nämlich eingetrichtert, einen möglichst “hohen”, wenn möglich akademischen Bildungsweg anzustreben, um dereinst einen Beruf mit möglichst hoher Wertschätzung und möglichst hoher Entlohnung ausüben zu können. Die Schule ist nichts anderes als ein Wettkampf um die zukünftigen Sonnenplätze in der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Sei ein Lehrer, aber auf keinen Fall ein Strassenarbeiter, sei eine Kinderärztin, aber auf keinen Fall eine Verkäuferin, sei ein IT-Spezialist, aber auf keinen Fall ein Kehrichtmann – so tönt es pausenlos an die Ohren des Kindes und es wird alles unternehmen, um diesen Wettkampf möglichst erfolgreich zu bestehen. Jetzt rächt sich dies alles: Oben sammeln sich immer mehr “Sonnenhungrige” auf den höheren Etagen der Gesellschaftspyramide an, von denen viele gar nicht einen Job finden, der ihrem langen und aufwendigen Bildungsweg Rechnung trägt – unten, auf der Schattenseite, wird es immer leerer. Als würde man ein Haus errichten, ohne zuvor ein genügend festes Fundament gebaut zu haben, um das Haus auch tatsächlich tragen zu können. Doch was wäre die Lösung des Problems? Erstens: Auf rein akademische Berufswege, die eine grosse Anzahl junger, arbeitsfähiger Menschen von der realen Berufswelt fernhalten, könnte man problemlos verzichten. Jeder junge Mensch sollte

eine
praktische Berufslehre absolvieren – Zehntausende, die heute auf den Gymnasien
sitzen, wären dann an konkreten Arbeitsplätzen anzutreffen, wo heute ein
gravierender Mangel an Arbeitskräften herrscht und jeder Abgang den Druck für
alle Verbliebenen nur umso mehr verstärkt. Sodann sollten alle jungen
Berufsleute mindestens fünf Jahre lang in ihrem erstgewählten, praxisbezogenen
Beruf verbleiben. Natürlich braucht es auch Akademiker, Ärztinnen,
Rechtsanwälte, Ingenieurinnen und Lehrer. Aber es genügt, wenn man diese
weiterführenden Ausbildungswege an die Basis grundlegender beruflicher
Tätigkeiten anknüpfen kann: Der junge Mann – um nur ein Beispiel zu nennen -,
der fünf Jahre lang als Krankenpfleger gearbeitet hat, könnte sich auf dem
zweiten Bildungsweg zum Arzt weiterbilden – die Vorkenntnisse und die
Berufspraxis nach fünfjähriger „Basisarbeit“ wären wohl mindestens so wertvoll,
wie wenn der junge Mann in dieser Zeit ein Gymnasium besucht hätte, ohne
Kontakt zur realen Arbeitswelt. Zweitens: Die Arbeitsbedingungen und die
Entlohnung in den „Basisberufen“ müssten mindestens so attraktiv sein wie in
den sogenannt „höheren“ beruflichen Tätigkeiten. Ideales Fernziel wäre, so
utopisch dies heute noch klingen mag, ein Einheitslohn, denn es gibt keine
einleuchtende Begründung dafür, weshalb eine Rechtsanwältin so viel mehr
verdienen sollte als eine Krankenpflegerin, die sich von früh bis spät
abrackert  und dabei sogar ihre
Gesundheit aufs Spiel setzt – wir kennen unzählige mehr oder weniger weit
hergeholte Begründungen für Lohnunterschiede, alle sind völlig willkürlich und
verkennen die Grundtatsache, dass eine Arbeitswelt und eine Wirtschaft, die
funktionieren sollen, auf den Einsatz und die Tatkraft sämtlicher Beteiligter angewiesen ist, welche dann auch alle gleichermassen am gemeinsamen Erfolg
beteiligt sein sollten. Schliesslich noch, drittens, vielleicht das Wichtigste:
Es geht um die Wertschätzung, um die Anerkennung, um die grundlegende Einsicht,
dass das Haus, in dem wir wohnen, nur dann nicht zusammenbricht, wenn das
Fundament, auf dem es steht, genug fest gebaut ist. Ohne Hochschulprofessoren,
Pfarrerinnen und Unternehmensberater würde unsere Wirtschaft wohl eine gute
Zeitlang problemlos weiterfunktionieren. Wenn aber Krankenpflegerinnen,
Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Kitaangestellte und Arbeiterinnen und Arbeiter in
den Lebensmittelfabriken ihre Arbeit niederlegen würden, käme wohl augenblicklich
alles zum Stillstand und wir würden zu spät erkennen, was in unserem
Bildungssystem, an den sogenannten „Bildungsidealen“, am allgemeinen Wertesystem
und am Umgang mit den unterschiedlichen Arbeitswelten und Berufszweigen alles
schiefgelaufen ist…