Erster Tag des World Economic Forum in Davos: “Die Ukraine hat die Party gecrasht”…

 

23. Mai 2022: Erster Tag des World Economic Forum in Davos. Ein ukrainisches Mädchen mit gelbblauem Band im dunklen Zopf wartet schüchtern auf den Auftritt von Witali Klitschko, der sogleich den Raum betreten und eine feurige Rede mit einem glühenden Appell an das Gewissen aller Länder angesichts der Bedrohung der Ukraine durch das russische Regime halten wird. Als Selenski im grossen Plenarsaal überlebensgross auf der Videobildfläche erscheint, brandet spontan Applaus auf. Und als seine Rede, in der Selenski im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg immer wieder von einer “Zeitenwende” spricht, zu Ende ist, erhebt sich das Publikum zu minutenlangen Standing Ovations. Das “Russian House”, wo früher die russische WEF-Delegation untergebracht war, ist zum “Russian Warcrimes House” umfunktioniert worden und zeigt jetzt eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Kamerateams aus aller Welt filmen die ausgestellten Bilder und übermitteln sie als Beweise für die russischen Gräueltaten in alle Welt. “Die Ukraine”, schreibt der “Tagesanzeiger”, “kann die Bühne fast im Alleingang bespielen.” Und das “Tagblatt” spricht gar davon, dass die Ukraine an diesem Tag “die Party gecrasht” habe. Einseitiger, manipulativer, demagogischer geht es nun wirklich nicht mehr. Ich erwarte ja nicht, dass irgendwer die russische Invasion in die Ukraine gutheissen sollte – das tut ja nicht einmal mehr eine wachsende Zahl von Russinnen und Russen selber. Aber ich erwarte ein Mindestmass an seriöser und selbstkritischer Aufarbeitung der Geschichte und nicht bloss eine Party, bei der sich lauter Gleichgesinnte so lange gegenseitig auf die Schultern klopfen, bis alle windelweich und ohne Ausnahme genau gleich denken. Viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Erstens: Wo sieht man die Bilder jener Gräueltaten, die seit 2014 vom ukrainischen Asowregiment und anderen nationalsozialistischen Kampfverbänden an der Zivilbevölkerung in der Ostukraine verübt wurden? Zweitens: Wer erzählt die Geschichte der NATO-Osterweiterung, die gegen wiederholte Bedenken Russlands seit 1991 immer weiter vorangetrieben wurde und durchaus mit einem Militärbündnis zwischen Kanada, Mexiko und Russland vergleichbar ist, welches auch in den USA niemals toleriert worden wäre? Drittens: Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das “Russian House” in ein “Russian Warcrimes Hous” umfunktioniert und wer garantiert, dass die dort ausgestellten Bilder tatsächlich alle echt sind – wo doch allgemein bekannt ist, dass nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine einen mit allen Mitteln modernster Technik geführten Informations- und Propagandakrieg führen. Viertens: Wenn Witali Klitschko davon spricht, dass ukrainische Teenager gefesselt und erschossen worden seien und man in Autos, welche von Panzern überfahren worden seien, sterbliche Überreste von Kindern gesehen habe, dann müsste er ehrlicherweise auch davon sprechen, wie grausam russische Kriegsgefangene von den Ukrainern behandelt werden: “Gleich auf mehreren Kanälen”, so die “NZZ” am 11. März 2022, “werden russische Kriegsgefangene in erniedrigenden Situationen sowie verstümmelte, verkohlte oder blutüberströmte Gefallene gezeigt. In einem tausendfach geteilten Video verhöhnen zwei ukrainische Soldaten einen abgeschossenen russischen Piloten und drohen ihm vor der per Handy zugeschalteten Frau massive Gewalt an.” Fairerweise, aber daran denkt offensichtlich niemand, müsste neben dem “Russian Warcrimes House” auch ein “Ukrainian Warcrimes House” stehen, wo die entsprechenden Bilder und Filme zu sehen wären – noch selten war das Sprichwort, wonach in jedem Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei, so aktuell wie heute. Wenn man schon für die Organisation des WEF einen so immensen Aufwand betreibt, Essen, komfortable Unterkunft und Dienstleistungen aller Art rund um die Uhr bereitstellt und die Gäste von nah und fern über Tausende von Kilometern heranfliegen lässt – dann müsste doch eine Konferenz von so grosser weltpolitischer Bedeutung vor allem der Wahrheitsfindung und der konstruktiven Problemlösung dienen und nicht dem fanatisierten Aufspalten der Welt in eine “gute” und eine “böse” Hälfte. Dieser Tage hat die italienische Regierung einen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, in dem erstmals mit dem Tabu gebrochen wird, es gäbe nichts ausserhalb eines totalen Sieges oder einer totalen Niederlage der einen oder der anderen Seite. Nur sucht man in den einschlägigen Medien nach der Meldung über diesen Friedensplan wie nach der Stecknadel im Heuhaufen – während Selenski, die Klitschkobrüder, ein Mädchen mit gelbblauem Haarband und die Bilder aus dem “Russian Warcrimes House” alle Spalten der Tageszeitungen und alle Nachrichtensendungen am Fernsehen beherrschen. Als gehörte die ganze Welt nur der einen Seite. Lobt sich der Westen nicht stets seiner Meinungsfreiheit, seiner Demokratie, seiner Menschenrechte? Weshalb dann diese unglaubliche Einseitigkeit der öffentlichen Meinungsbildung, etwas, was man ja stets der Gegenseite zum Vorwurf macht. Böte nicht gerade ein Ort wie das WEF die einzigartige Chance, gängige Denkmuster aufzubrechen, eingefahrene Feindbilder zu hinterfragen, der Völkerverständigung, dem Dialog, dem Frieden eine Chance zu geben? Dies, und nicht der ständige Ruf nach noch mehr Waffen und noch mehr Krieg, wäre dann vielleicht das, was man tatsächlich als eine “Zeitenwende” bezeichnen könnte…