Alte Welt und neue Welt: “Aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit…”

 

Am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, platzierte sich die schwedische Schülerin Greta Thunberg mit einem Pappschild mit der Aufschrift “Schulstreik für das Klima” vor dem Reichstag in Stockholm. Im Laufe der folgenden Monate sollten ihr weltweit Millionen von jungen Menschen folgen, friedlich, beharrlich und voller Kreativität dafür kämpfend, dass die natürlichen Lebensgrundlagen und damit das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten nicht weiterhin rücksichtslos den Profitinteressen einer auf blinde Wachstumsideologie fixierten Wirtschaft geopfert werden. Im April 2019 verbreiteten Medien rund um den Globus das Bild der 20jährigen sudanesischen Studentin Alaa Salah, die sich, singend auf einem Autodach stehend, durch die Strassen von Karthum fahren liess, begleitet von einer vieltausendfachen Menschenmenge. Seit Jahren hatten sich sudanesische Frauenorganisationen für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Frieden eingesetzt, auch unter widrigsten und gefährlichsten Umständen. Nun war es soweit: Am 11. April 2019 wurde der verhasste Diktator al-Bashir abgesetzt und innerhalb weniger Wochen wurden gesellschaftliche Veränderungen Wirklichkeit, die eben noch undenkbar gewesen waren. Ende Mai 2022 berichtete Bruna Bianchi, Mitarbeiterin eines internationalen journalistischen Netzwerks, von einer zunehmend breiter werdenden Bewegung russischer Frauen, die ihren Protest gegen den Krieg in der Ukraine auf vielerlei friedliche und kreative Art auf die Strasse tragen: Sie legen Blumen an symbolischen Orten nieder und stellen Antikriegs-Kunstobjekte her, die sie überall verbreiten, sie beschreiben Geldscheine mit Friedensbotschaften, um mit älteren Menschen zu kommunizieren, sie weinen auf der Fahrt mit dem Bus, um Empathie und Diskussionen auszulösen, sie filmen und verbreiten mutig das brutale Vorgehen der Polizei. In mehreren hundert Städten haben solche Aktionen schon stattgefunden und die dahinter stehende Organisation des FAR (Feminist Anti-War-Resistance) zählt bereits über 26’000 Anhängerinnen. Greta Thunberg, Alaa Salah, die russischen Friedensfrauen und viele weitere Millionen namenloser Kämpferinnen für eine neue, friedliche und gerechte Welt, sind sie nicht Anlass zu einer grenzenlosen Hoffnung ungeahnten Ausmasses? In solchen Momenten kommt es mir vor, als lebten wir gleichzeitig in gänzlich unterschiedlichen, gegensätzlichen Welten. Als gäbe es so etwas wie eine alte Zeit, in der sich die Kräfte des Hasses, der Gewalt, der Ausbeutung, der Zerstörung und der Kriegstreiberei noch einmal so richtig aufbäumen – und gleichzeitig eine neue Zeit, die eben erst geboren wurde und immer deutlicher erkennen lässt, wie eine zukünftige, andere Welt aussehen könnte. Es ist wohl alles andere als ein Zufall, dass die alte Zeit hauptsächlich von Männern verkörpert wird, während die neue Zeit zum grössten Teil von Frauen getragen wird, gemeinsam mit einer wachsenden Zahl von Jugendlichen, aber auch Seite an Seite mit zahllosen Männern, die ihre traditionellen Rollenbilder abzulegen beginnen und sich einem neuen Selbstverständnis öffnen, das sie so viel gefühlvoller, friedlicher und ganzheitlicher macht. Ja. Was wir heute erleben, scheint tatsächlich so etwas zu sein wie eine Zeitenwende, das Ende des Patriarchats und der Anfang eines tatsächlich von Grund auf neuen Zeitalters. So viel Hoffnung. Ganz so, wie es die bekannte Anti-Apartheid-Kämpferin und Schriftstellerin Nadine Gordimer einmal formulierte: “Ich weigere mich, ohne Hoffnung zu sein.” Ja, man muss an das Gute glauben, damit es Wirklichkeit werden kann. Und doch: Es ist nicht so, dass das Gute ganz von selber kommt, es braucht so viele Verbündete als nur möglich, so viele Menschen als nur möglich, die nicht abseits stehen, sondern Partei ergreifen. Denn, wie der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan einmal sagte: “Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.” Doch wie kann die Vision einer neuen, friedlichen und gerechten Welt Wirklichkeit werden? Es muss, banal gesagt, ein Weg der Zärtlichkeit sein. Denn wenn das Ziel eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein soll, in der Gerechtigkeit, Liebe und Frieden an oberster Stelle stehen, dann muss auch der Weg dorthin ein Weg der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens sein. “Ohne Wut wird sich nichts ändern”, sagte der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker, “aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit.” Und auch für Mahatma Gandhi war klar: “Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass wächst, droht Untergang.” Wir alle waren wohl schon mal von einem dicken Nebel eingehüllt. Wir befanden uns in einer fremden Gegend, wussten nicht, was für eine Landschaft sich hinter dem Nebel verbarg. Doch dann, ganz langsam, begann sich der Nebel aufzulösen und durch ein kleines Loch erblickten wir einen Teil jenes neuen Landes, wo wir hingekommen waren. Immer mehr löste sich der Nebel auf, immer weiter wurde der Blick auf das neue Land, bis es irgendwann in seiner ganzen Pracht und Fülle sichtbar geworden war. So kommt mir die heutige Zeit vor. Noch sind wir in dicken Nebel eingehüllt, noch ertönt millionenfaches Leiden von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Doch nach und nach wird sich der Nebel lichten und das neue Land, das wir bloss erahnen konnten, wird Wirklichkeit. “Wir malen sie uns aus”, sagte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, “und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft, von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.”