Kultur: Domäne der Reichen…

 

In dieser Stadt, meinte F., sei kulturell viel los, man merke eben, dass es hier viele Reiche gäbe. In der Tat: Schaut man sich die Eintrittspreise von Kabarett- und Theateraufführungen, Freilichtkonzerten, Ausstellungen oder gar Opernhäusern an, dann wird schnell klar, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung Vergnügungen solcher Art schlicht und einfach nicht leisten kann. Selbst der Eintritt in ein Kleintheater, ein Kinobesuch oder ein Zirkusticket sind für sehr viele Menschen nur ein seltener oder gar gänzlich unerreichbarer Luxus. Nie vergesse ich jenen etwa achtjährigen Knaben, der voll freudiger Erwartung von der Schule nach Hause gerannt war, nachdem seine Lehrerin bekannt gegeben hatte, dass im städtischen Kleintheater nachmittags das Stück vom Räuber Hotzenplotz gespielt würde, und die Kinder ermuntert hatte, diese Vorstellung zu besuchen. Gross war die Begeisterung in der Klasse gewesen und die meisten Kinder hatten schon abgemacht, sich eine Viertelstunde vor der Vorstellung beim Eintritt zu treffen. Als nun aber die Mutter ihrem Kind beibringen musste, dass sie für das Ticket zu dieser Vorstellung nicht genug Geld hätte, brach für den kleinen Jungen eine ganze Welt zusammen und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen… 

Nichts weniger als eine eklatante Menschenrechtsverletzung ist das, bilden kulturelle Angebote und Aktivitäten doch so etwas wie die geistige Nahrung, die, wie auch die Bildung, ein Grundrecht aller Menschen sein müsste, von dem niemand ausgeschlossen werden dürfte. Auch die UNO-Menschenrechte besagen gemäss Artikel 27, dass “jede und jeder das Recht hat, sich an den Künsten zu erfreuen.” Das Unrecht geht aber noch viel weiter. Betrachtet man die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes, dann kann sich Geld am einen Ort nur deshalb ansammeln, weil es an anderen Orten fehlt. Die alleinerziehende Mutter des achtjährigen Knaben, der auf den geliebten Theaterbesuch verzichten muss, verdient als Verkäuferin bloss deshalb so wenig, damit das Geschäft, für welches sie arbeitet, einen möglichst hohen Profit erzielen kann – vermutlich wird sich das Kind des Geschäftsinhabers den Theaterbesuch problemlos leisten können. 

Das ist nur eines von abertausenden Beispielen dafür, auf welchen Wegen sich das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft bewegt. Der Profit, der am Ende herausschaut und dann solche Dinge wie Theater- oder Konzertveranstaltungen und unzählige weitere kulturelle Angebote finanzierbar macht, ist, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, früher oder später von allen Menschen erarbeitet worden und in ganz besonderem Masse von all denen, die für wenig Lohn schwere Arbeit verrichten und so sogar einen überdurchschnittlichen Beitrag an die wirtschaftliche Gesamtbilanz leisten. Mit anderen Worten: Auch die Mutter unseres achtjährigen Knaben subventioniert durch ihre Arbeit indirekt das Theaterstück, von dem ihr Kind aber ausgeschlossen bleibt, weil das Ticket für sie zu teuer ist.

Eigentlich ist es eine Farce, in diesem Zusammenhang überhaupt von “Kultur” zu sprechen. Viel eher müsste man von den Luxusvergnügungen der Reichen sprechen, welche von den Armen finanziert werden, welche aber selber von diesen “Luxusvergnügungen” ausgeschlossen bleiben – ebenso wie sie auch vom Essen im Luxusrestaurant, von der Übernachtung im Wellnesshotel oder von den Ferien auf Mallorca oder den Malediven ausgeschlossen bleiben, obwohl sie, und das kann man nicht genug betonen, alle diese Luxusvergnügungen durch ihre tägliche Schufterei und ihre unverschuldete Armut mitfinanzieren und überhaupt erst möglich machen. 

Das Wort “Kultur” entstammt dem lateinischen “colere” für pflegen, hegen, umsorgen. Im ursprünglichen Sinne des Begriffs besteht Kultur nicht bloss im Veranstalten von Theater-, Musik- oder Kunstanlässen im Tausch mit Geld von Besucherinnen und Besuchern. Kultur ist etwas viel Umfassenderes. Kultur im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie das Zusammenleben der Menschen gestaltet ist. Dazu können Vorstellungen im Theater oder auf einer Freilichtbühne, im Zirkus oder im Opernhaus durchaus gehören, aber das alles ist bloss Teil eines grösseren Ganzen, in dem zuletzt das ganze Zusammenleben, aber auch die Wirtschaft, die Arbeitswelt zur “Bühne” wird, auf der Kultur als Pflege des Gemeinschaftslebens gelebt und praktiziert wird. Damit wird aber auch klar, dass echte Kultur stets etwas sein muss, was alle Menschen miteinander verbindet. In unserer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen ist “Kultur” zum reinen “Konsumobjekt” verkommen, welches sich die einen leisten können und die anderen nicht – statt die Menschen miteinander zu verbinden, bewirkt diese Art von “Kultur” genau das Gegenteil: Sie trennt die Menschen in solche, die sich die Angebote leisten können, und die anderen, denen dies verunmöglicht wird. 

Das effizienteste Mittel, um dies zu verhindern, wäre die Einführung eines Nulltarifs für sämtliche kulturelle Anlässe und Aktivitäten und deren Subventionierung durch Steuergelder. Dann wären die Bewohnerinnen und Bewohner der Goldküste im Opernhaus nicht mehr unter sich, um sich ein sozialkritisches Stück zu Gemüte zu führen, sondern vor und neben ihnen sässen Arbeiterinnen und Studierende, um mit ihnen vielleicht sogar in der Pause oder nach der Vorstellung über das Stück zu diskutieren. Und auch das Publikum im Kleintheater wäre bunt gemischt und niemand wäre ausgeschlossen. Und unser achtjähriger Bub müsste nicht mehr weinen, sondern könnte endlich, wie die anderen Kinder seiner Klasse, das Stück vom Räuber Hotzenplotz erleben. Eine verrückte Idee? Wohl weit weniger verrückt als das, was und heute als “normal” erscheint: Dass Kultur zu einer kapitalistischen Ware verkommen ist, mit der man Geschäfte treibt, die man kauft und verkauft und welche die Gesellschaft mitten auseinanderschneidet in jene, die daran teilhaben dürfen, und jene, die so bitter und unverschuldet von alledem ausgeschlossen sind…