Die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen und das “System”

 

Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen am 19. Juni 2022 stehen sich, wie die Schweizer “Tagesschau” am 18. Juni berichtet, der linke Gustavo Petro und der Bauunternehmer Rodolfo Hernández gegenüber. Beide versprechen dem Volk ein Ende der Armut und der Korruption. Am Beispiel der Familie Siagana zeigt die “Tagesschau”, wie prekär für weite Teile der Bevölkerung die Lebensbedingungen in Kolumbien gegenwärtig sind: Die Familie lebt in zwei Zimmern eines billigen Hotels. Noch bis vor einem Jahr lebten sie in einem Haus, dann wurde das Leben immer teurer und für die Miete reichte das Geld nicht mehr. Heute versucht der Familienvater alles, um die Familie zu ernähren. Er selbst muss oft hungern, so wie auch Millionen anderer Kolumbianerinnen und Kolumbianer. “Ich weiss”, sagt Niober Siagana, “dass ich es irgendwie schaffen kann, ich habe Vertrauen in mich selbst durch meine Arbeit, aber das System ist einfach gegen mich.” Gerne hätte ich über dieses “System” noch ein wenig mehr erfahren. Doch wie immer bricht die Fernsehberichterstattung an dieser Stelle ab. Man zeigt das Elend, den Hunger, die Armut, drastische Bilder, die unter die Haut gehen – aber vom “System” erfährt man nichts. So gebe ich denn bei “Google” den Suchbegriff  “Reichtum in Kolumbien” ein – und siehe da: Sogleich erfahre ich, dass der reichste Kolumbianer, Luis Carlos Sarmiento, über ein Vermögen von nicht weniger als 9,9 Milliarden Dollar verfügt, ihm folgen zahlreiche weitere, ein bisschen weniger reiche Milliardäre. Interessant, ist, weshalb Sarmiento so reich ist. Er ist Bauunternehmer, Bankier und Präsident der grössten Unternehmensgruppe Kolumbiens. Dieses Konglomerat umfasst Unternehmen in den Bereichen Energie und Gas, Printmedien, Hotellerie, Agroindustrie, Bergbau, Bauwesen und Finanzen. Aha, das System! 9,9 Milliarden Dollar fallen nämlich nicht einfach vom Himmel, sie wachsen auch nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Tiefseemuscheln auf dem Meeresgrund. Nein, jeder einzelne Dollar musste von irgendwem irgendwo hart erarbeitet worden sein, bevor er auf dem Konto von Sarmiento und den anderen reichen und superreichen Kolumbianern landen konnte. Mit jedem Dollar, den eine Zimmerfrau in einem der zu Sarmientos Unternehmensgruppe gehörenden Hotels weniger verdiente, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre, wird Sarmiento wiederum ein klein wenig reicher, auch mit jedem Minenarbeiter, der tief unter der Erde seine Gesundheit opfert, auch mit jedem Kind, das zu wenig zu essen hat. Armut auf der einen Seite, Reichtum auf der anderen – alles ist unauflöslich miteinander verbunden, mit unzähligen unsichtbaren Fäden, sodass niemand zu erkennen vermag, wie alles funktioniert. Das System. Doch das ist längst noch nicht alles. All die kolumbianischen Konzerne, welche immer härtere und immer schlechter bezahlte Arbeit der einen in das Gold der anderen verwandeln, sind ja ihrerseits wieder Teil noch grösserer Gebilde, multinationaler Konzerne, welche die Umverteilung von der Armut zum Reichtum nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern weltweit vorantreiben. Das System. Dieses System, im dem auch Niober Siagana gefangen ist und von dem er sagt: “Es ist einfach gegen mich!” Und so wird es leider nicht eine so gewaltige Rolle spielen, ob Gustavo Petro oder Rodolfo Hernández die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Das System, das die Armen Tag für Tag in dem Masse ärmer macht, wie es die Reichen reicher macht, wird damit nicht überwunden sein. Das System, der Kapitalismus, kann nur überwunden werden, wenn er weltweit überwunden wird. Hierzu aber bedarf es einer neuen politischen Bewegung, die sich über alle Grenzen hinweg verbindet und solidarisiert für eine von Grund auf neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die nicht an irgendwelchen Landesgrenzen aufhört oder beginnt. Eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der soziale Gerechtigkeit an oberster Stelle steht, in der die Güter nicht mehr dorthin fliessen, wo es genug Geld hat, um sie kaufen zu können, sondern dorthin, wo die Menschen sie brauchen, in der kein Kind mehr des Abends hungrig zu Bett gehen muss, während die Reichen und Reichsten ihre Feste schmeissen und in der endlich ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist.